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Christa Noack

© privat

Nachruf auf Christa Noack: Und natürlich Geschichten über Engel

Auf ihrem Nachttisch stand die Petrusfigur aus der Engelskapelle. „Der schließt den Himmel auf“, sagte sie immer

Ihr einprägsames Geburtsdatum hatte sie bis zum Schluss parat: „Einundzwanzigster Dritter Einundzwanzig!“, antwortete sie ihrem Sohn zuverlässig, als er sie danach fragte, jeden Tag. Da lag sie schon seit einem halben Jahr die meiste Zeit in ihrem Bett. Mit ihrem 102-jährigen Körper, ja, aber bis zuletzt ohne Brille, ohne Hörgerät. Und mit einem enormen Repertoire an Gedichten. „Die Made“ von Heinz Ehrhardt mochte sie besonders. Ihre Lieblingsstelle: „Sie ist Witwe, denn der Gatte, den sie hatte, fiel vom Blatte“.

Witwe war Christa Noack bereits selbst seit 30 Jahren. Fast nochmal ein zweites Leben. Ins erste wurde sie 1921 hineingeboren, in bescheidene Verhältnisse. Die Eltern jung, der Vater gerade zurück von seinem Missionsdienst im damaligen Deutsch-Ostafrika, lebte die Familie in der Nähe von Zwickau. Bis der Vater eine Pfarrstelle im Erzgebirge bekam, später in Dresden. Dort blühte Christa auf – bessere Schulen, die Gemäldegalerie, in der Oper den günstigsten Stehplatz ganz oben. Sie lernte Kindergärtnerin.

1933 starb die Mutter nach einer schmerzhaften Tumorerkrankung. „Hier ist eine nette Krankenschwester, die soll der Vater heiraten, die wird für euch gut sein“, sagte sie ihrer 12-jährigen Tochter, wenn diese sie im Diakonissenhaus besuchte.

Auf einer Ebene mit dem „Gesinde“

Immer schwärmte der Vater von Afrika, hielt Vorträge, sprühte vor Begeisterung. Das färbte ab auf Tochter Christa, sogar Kisuaheli lernte sie. Auch sie wollte in den Missionsdienst gehen. Dann kam der Krieg. Um nicht eingezogen zu werden zum Sanitätsdienst bei der Wehrmacht, wurde Christa in ein Rittergut in der Lausitz gesteckt als Kindermädchen. Dass sie mehr war, nämlich eine staatlich ausgebildete Kindergärtnerin, darauf legte sie Wert. Dann aber nahm sich die Oma der beiden Kinder an, fortan war Christa auf einer Ebene mit dem „Gesinde“.

Bei Laune hielten sie verschiedene Verehrer. Ein besonders hartnäckiger schrieb ständig Briefe. 19 Jahre älter war er, eingesetzt im Innendienst bei der Flak. Als er bei ihrem Vater um Christas Hand bat, antwortete dieser: „Es fällt mir als Vater nicht so leicht, Christa aus meinen Händen zu geben. Doch aufzuhalten wird auch dieses nicht sein.“ Man wünsche ein „öffentliches Verlöbnis und bis zur Verheiratung eine Spanne Zeit dazwischen“. Daran hielten sich die Verlobten.

Vielleicht erklären die folgenden Jahre Christas Gewohnheit im Alter, keinen Tag ohne den „Abendsegen“ aus Humperdincks „Hänsel und Gretel“ enden zu lassen: „Abends, will ich schlafen geh’n, 14 Engel um mich stehn.“

Schutzengel muss sie gehabt haben in den Kriegsjahren. Nach einer schnellen Hochzeit war Christa wieder allein, aber nicht lange: Im Juli 1943 stellte sie ihren ersten Sohn ihrer Schwiegermutter in Hamburg vor – genau zur Zeit des großen Angriffs. Nichts geschah ihr. Als Dresden in Flammen aufging, wurden sämtliche Nachbarhäuser der Straße ausgebombt – bis auf ihres. Ihr Vater kam aus Pesterwitz oberhalb der Stadt, um sie und die Kinder zu holen. Feuchte Tücher wickelten sie um die beiden Jungs und mussten bis Meißen laufen, um eine intakte Brücke zu finden. Als sie auf der anderen Elbseite stand und in den roten Himmel über Dresden sah, begann sie zu weinen.

„Zu mir waren die Russen freundlich“

Dann die Flucht mit ihrer 15-jährigen Schwester und den beiden Kindern. „Russ. Panzer, der den 1. LKW Wagen in Brand schoss. Wir sahen einen Kinderwagen auf der Straße stehen und das Kind ohne Kopf im Wagen“, schrieb sie später an ihren Mann. Direkt hinter ihnen ging eine Tankstelle in die Luft. In Seiffen saßen sie in einem Keller, über ihnen das Dorf in Brand und die Schreie der Frauen. „Zu mir waren die Russen freundlich“, erzählte Christa später. Ein Soldat nahm den Sohn auf den Arm und sagte: „Du gute Mutter“. Später schrieb sie: „Ich hatte schreckliche Angst.“

Zurück in Dresden erhielt sie Nachricht von ihrem Mann, der in französische Gefangenschaft geraten war. Dieses eine Mal setzte sie sich gegen ihn durch. Die Franzosen hätten ihm angeboten, er käme sofort frei, wenn er seine Familie nachhole. Nein, sagte Christa, sie wollte nicht weg von zu Hause. Frei kam er trotzdem, und wieder hatten sie Glück: Mitten während der Blockade gelang ein Umzug von Dresden nach West-Berlin, nachts fuhren sie über die Grenze. Bald zogen sie in die Argentinische Allee in Dahlem. Dort lebte Christa bis zuletzt.

Ihre Wohnung wurde Dreh- und Angelpunkt für Freunde und Freundesfreunde, die in den Westen wollten. Sie hätten sonst etliche Tage im Auffanglager Marienfelde verbringen müssen. Die Kinder schliefen bei den Noacks auf dem Boden oder zelteten im Garten. Als eine der ersten besorgte sich Christa einen Ausweis für die Amerika-Gedenkbibliothek, suchte Bücher aus für den Frauenkreis ihrer Gemeinde: Günter de Bruyn, Hermann Hesse, und natürlich Geschichten über Engel.

Ihr Mann brachte das Geld nach Hause, sie verdiente mit Stricken und Babysitten etwas dazu. Als der Sohn eine Lehre in Tempelhof begann, schmierte sie ihm morgens um fünf Uhr die Stullen. Wenn der Vater mit den drei Söhnen am Wochenende im Sonntagsstaat in den Grunewald ging, blieb sie zu Hause und kochte Rotkohl und falschen Hasen. Sie schien in ihrer Rolle aufzugehen. Später ersetzten Enkel die Kinder und Nudelauflauf mit Jagdwurst den falschen Hasen.

Ab 1960 verreisten die Noacks jedes Jahr, akribisch und stolz listete Christa die Ziele auf: Vesuv, Florenz, Uppsala, und immer schrieb sie ausführliche Berichte. Nach Afrika allerdings schaffte sie es nie. Einmal immerhin war sie in Gibraltar, „um rüberzugucken“.

102 ist sie geworden. Sie überlebte einen ihrer Söhne. Aß dann immer weniger. Und auch ihr unerschütterlicher christlicher Glaube nahm ihr nicht das Unbehagen vor dem letzten großen Ungewissen. „Ich hab’ Angst“, sagte sie morgens noch. Auf ihrem Nachttisch stand die Petrusfigur aus der Engelskapelle. „Der schließt den Himmel auf“, sagte sie immer. Und sie zählte die Engelein in ihrem „Abendsegen“ auf, bis zu den letzten beiden: „Zweie, die mich führen zu den Himmelstüren.“

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