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© imago/Müller-Stauffenberg

Report 2023 zu queerfeindlicher Gewalt: So viele Vorfälle wie noch nie in Berlin dokumentiert

In Berlin hat es 2023 mehr Übergriffe und Gewalttaten gegen queere Personen gegeben, teilte Maneo mit. Die Fachstelle erfasst jährlich gegen LGBTIQ gerichtete Gewalttaten.

Der Mann ahnte nichts Schlimmes, als er am 22. Februar 2023 durch die Karl-Marx-Straße in Neukölln ging. Das änderte sich schlagartig, als sich ihm drei junge Männer in den Weg stellten. Erst beleidigte das Trio den Passanten, dann eskalierte die Situation. Aus der Gruppe heraus erhielt der Mann einen Schlag gegen den Kopf, dann riss ihm einer der Täter einen Ohrring ab.

Anschließend schubsten die Angreifer das Opfer in Richtung der viel befahrenen Straße, eine potenziell lebensgefährliche Situation. Nur weil Passanten eingriffen, wurde er aus dieser gerettet. Die Täter flüchteten. Das Opfer ging zur Polizei. Der Grund für den Angriff: Queerfeindlichkeit.

Es ist nur einer der insgesamt 1014 Fälle und Hinweise mit LGBTIQ-feindlichen Bezügen, die Maneo im vergangenen Jahr erfasste. Das sind 29 Prozent mehr als 2022 (788). Am Mittwoch stellte die Organisation den Report 2023 vor. Darin dokumentiert sind auch Vorkommnisse, die zwar nicht angezeigt, Maneo aber mitgeteilt wurden.

Maneo ist eine Fachstelle, die sich seit 34 Jahren mit queerfeindlicher Gewalt beschäftigt und Betroffene von Diskriminierung und Übergriffen berät. Es ist das bekannteste schwule Anti-Gewalt-Projekt in Deutschland und setzt sich für die Sicherheit und Rechte von LGBTIQ-Personen ein. Das Kürzel steht für Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche und queere Menschen.

892 Personen haben sich an Maneo gewandt

Bei den 1014 Fällen und Hinweisen, die Maneo in seinem Report 2023 aufführt, sind aber auch ein paar eingerechnet, die erst Ende 2022 eingegangen sind und deshalb erst 2023 bearbeitet werden konnten. Insgesamt 978 Fälle und Hinweise registrierte Maneo aber explizit im Jahr 2023, das sind deutlich mehr als 2022 (760).

Bei den 978 Fällen und Hinweisen hatten 372 einen klar LGBTQI-feindlichen Hintergrund. Bei den restlichen Fällen gab es entweder Hinweise auf einen LGBTQI-feindlichen Hintergrund, die nicht vollständig ausgewertet werden konnten, oder es fehlten Informationen, wodurch eine LGBTQI-feindliche Motivation nicht klar gegeben war, beispielsweise bei Fällen der sexualisierten Gewalt.

892 betroffene Personen haben sich im vergangenen Jahr an Maneo gewandt – 66 mehr als 2022. 2021 waren es noch 805. „Die hohen Zahlen sprechen für die hohe Akzeptanz unserer Arbeit in unseren Szenen, auch für eine langsam wachsende Bereitschaft, Übergriffe nicht weiter zu verschweigen, sondern darüber zu sprechen“, sagte Bastian Finke, der Leiter von Maneo.

Behörden bestätigen Zunahme

Erheblich weniger Betroffene haben sich zusätzlich an die Polizei gewandt: 791 queerfeindliche Angriffe wurden 2023 zur Anzeige gebracht. Die geringere Zahl führt Finke darauf zurück, dass eine Anzeige für Betroffene entweder „zu viel Arbeit“ darstelle oder dass sie „mit einer Anzeige zu viel Stress verbinden“, weil sie wegen ihrer sexuellen Orientierung schon genug zu leiden hätten. „Wir nennen das Minderheitenstress“, sagte Finke.

Seit Jahresbeginn wurden in der Hauptstadt bis Ende April 265 Verfahren eröffnet. Das teilte die Staatsanwaltschaft Berlin der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft steigen die Anzeigen in den vergangenen Jahren kontinuierlich. „Die Verfahrenssteigerung muss aber nicht zwingend darauf beruhen, dass es mehr Vorfälle gab, sondern dürfte zu einem Teil auch der steigenden Anzeigebereitschaft der Betroffenen geschuldet sein“, sagte Staatsanwalt Sebastian Büchner der dpa.

Zu den von Maneo 2023 erfassten Fällen zählten zudem 85 Übergriffe gegen LGBTIQ-Einrichtungen und -Gedenkorte sowie gegen Teilnehmer von entsprechenden Veranstaltungen. Auch Übergriffe gegen Bündnispartner dokumentierte die Fachstelle. Beispielsweise beschossen Personen Einrichtungen mit Buttersäure, warfen Scheiben ein oder legten Brandsätze. Mitarbeiter wurden bedroht und an der Tür beleidigt, bespuckt und eingeschüchtert.

Die häufigsten Delikte sind Beleidigungen und Körperverletzungen

Die häufigsten Delikte 2023 waren laut dem Report Beleidigungen mit 32 Prozent, etwas weniger als 2022 mit 42 Prozent. Hingegen stieg dafür die Zahl an einfachen und gefährlichen Körperverletzungen auf 32 Prozent, im vergangenen Jahr waren es 29 Prozent. Hier zählen auch die Versuche mit rein. Zudem gab es mehr Fälle der Nötigung und Bedrohung. 2023 waren es 27 Prozent, 2022 noch 24 Prozent der gemeldeten Fälle.

92
Fälle dokumentierte Maneo 2023 in Tempelhof-Schöneberg

Die meisten Vorfälle in Berlin gab es laut dem Bericht in Tempelhof-Schöneberg: 92 Übergriffe haben hier stattgefunden, 25 Prozent der Fälle. Allerdings fanden 88 dieser Taten in Schöneberg statt. In Mitte waren es 78, etwa 21 Prozent, und in Friedrichshain-Kreuzberg 46 Übergriffe, rund 12 Prozent. In Neukölln ist es zu 23 Vorfällen, etwa sechs Prozent, gekommen und in Pankow sind 18 Personen angegriffen worden, was fünf Prozent der Vorfälle ausmacht.

Wir sind über das Ausmaß der Gewalt beunruhigt, weil Übergriffe teils lang anhaltende Spuren und Verletzungen bei Betroffenen hinterlassen“

Bastian Finke, Leiter von „Maneo“

„Wir sind über das Ausmaß der Gewalt beunruhigt, weil Übergriffe teils lang anhaltende Spuren und Verletzungen bei Betroffenen hinterlassen“, sagt Finke. „Betroffene brauchen alle erdenkliche Unterstützung – keine Bagatellisierung und Schönrederei.“ Die Fachstelle sei auch wegen der vielen Übergriffe gegen die Einrichtungen, Veranstaltungen und Bündnispartner besorgt. „Von diesen Übergriffen waren weitaus mehr Menschen betroffen, als wir ermitteln konnten“, sagt er. „Es muss gewährleistet werden, dass wir unserer Arbeit in Ruhe und ohne Angst nachgehen.“

672 Personen suchten direkte Hilfe

Von den 892 Personen, die Hilfe bei Maneo gesucht haben, haben 672 direkten Kontakt aufgenommen, sagte Finke. 2023 hatte die Stelle 2072 Beratungsgespräche geführt, 2022 waren es mit 2074 nur zwei mehr. Auch Institutionen haben sie hierbei beraten.

„Die Zahl der Beratungsgespräche ist gegenüber dem Vorjahr nicht weiter angestiegen, weil die Arbeitsbelastungen für unsere Mitarbeiter im Arbeitsbereich Opferhilfe bereits sehr hoch sind. Wir überschreiten jedes Jahr unsere Zeitkontingente und Kapazitätsgrenzen“, sagte Finke.

Der Angriff von Russland auf die Ukraine macht sich auch in der Arbeit von Maneo bemerkbar. Im vergangenen Jahr hatte es 497 Gespräche mit russisch- und ukrainisch-sprechenden Flüchtlingen gegeben. Viele Betroffene hatten Ängste vor Übergriffen im Wohnumfeld und im Umfeld von Szeneeinrichtungen. Die Arbeit mit Flüchtlingen „wird mit einer Stelle gefördert, die wir auf zwei Mitarbeiter mit entsprechender Sprach- und Kulturkompetenz aufgeteilt haben“, sagte Finke. „Eine Erhöhung unserer personellen Ressourcen ist leider nicht in Sicht.“

Maneo wird von der Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung finanziert. Die Fachstelle erhält nach Angaben von Finke jährlich rund 230.000 Euro. Maneo hat fünf Vollzeitstellen, die sich jedoch insgesamt 15 Personen teilen. (mit dpa)

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