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Berlin: Drei Minuten Trauer

Um zwölf Uhr stand die Stadt still – in Schulen, Banken und Betrieben, auf Straßen und in Kirchen wurde der Flutopfer gedacht

Auf dem Breitscheidplatz kehrte zur Mittagszeit eine ungewohnte Ruhe ein. Menschen blieben stehen, Autos stoppten. In der ganzen Stadt hielten Busse und Bahnen an, viele Kirchen läuteten die Glocken, Radiosender blieben stumm. In Schulen, Kaufhäusern, Firmen und Behörden nahmen sich Zehntausende drei Minuten Zeit, um zu schweigen.

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Die Charlottenburgerin Claudia Hampel brachte Punkt zwölf den Autoverkehr zum Stehen. Sie hielt ihren roten Golf mitten auf der Fahrbahn vor der Gedächtniskirche an, stieg aus und ließ sich von einem hupenden Auto nicht stören. „Ich will ein kleines Zeichen der Solidarität setzen“, sagte sie. Ihr Zeichen wurde von den anderen Autofahrern weitgehend verstanden. Der Verkehr stand bis in die Tauentzienstraße still, auch vom Kurfürstendamm rollten nur vereinzelt Autos vorbei. Auf dem ruhig gewordenen Breitscheidplatz blieben die Fußgänger stehen, viele weinten und falteten die Hände, während von der Gedächtniskirche die tiefe Totenglocke läutete. Das Gotteshaus war bis auf den letzten Platz gefüllt. Pfarrer Knut Soppa hielt nach der Schweigeminute eine kurze Fürbitte. Erschreckt hätten die Menschen erkennen müssen, dass sie Gewalten und Mächte nicht beherrschen könnten. Gott solle den Betroffenen die Stärke geben, nicht zu verbittern und zu verzweifeln, sondern sich des Mitgefühls sicher zu sein und den Blick nach vorne zu richten. Kurz vor zwölf hatte der Pfarrer kopfschüttelnd vor der Kirche gestanden, weil zwei Arbeiter lautstark den Weihnachsbaum zersägten und ein Diesel-Aggregat lief. Aber Punkt zwölf legten die Arbeiter die Sägen beiseite. So konnte es wirklich still werden.

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Kein Wort fiel, kein noch so kleines Kichern war zu hören: Die Klasse 6a der Lichtenrader Bruno-H.-Bürgel-Grundschule hielt es gut durch, drei Minuten zu schweigen. Die Kinder hatten sich vorher zusammen mit ihrer Lehrerin Anne Kathrin Schille genau überlegt, ob es überhaupt Sinn macht, wenn weltweit die Menschen durch Schweigen der Opfer gedenken. Die meisten Kinder bejahten das, wie etwa Sonja, Nicole, Frederick und Vanessa, die sagten, „dass sich die Menschen sonst so alleingelassen fühlen“ und „dass es sie stark macht, wenn man an sie denkt“. „Wir würden uns doch blöd fühlen, wenn in so einer Lage keiner an uns dächte“, meinte auch der 11-jährige Mounier. In der klaren Minderheit blieb David, der sagte, „dass es doch nichts bringt, zu schweigen“. Die Schätzelberg-Grundschule in Mariendorf verschob die große Pause, damit es um 12 Uhr still werden konnte. In anderen Schulen ließen die Lehrer Grußbotschaften schreiben.

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Alle Mitarbeiter der Senatskanzlei bekamen gestern früh eine E-Mail ihres Chefs. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit bat, sich zum Gedenken an die Opfer der Flut auf der Freitreppe des Roten Rathauses zu versammeln. Etwa 90 Beschäftigte folgten dem Aufruf. Still standen sie vor dem Hauptportal, irgendwo in der Menge der Regierende, und lauschten dem Geläut der Marienkirche. Einige Passanten traten hinzu und gedachten mit.

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Der U-Bahnzug auf der Linie 2 stoppt schon 11.58 Uhr am Rosa-Luxemburg-Platz. Eine Lautsprecherstimme macht knarzend Mitteilung, es würde angehalten zwecks Gedenken. Alle Passagiere machen ohne aufzublicken weiter mit Lesen, Dösen oder Grimmiggucken. Geschwiegen wird sowieso. Nur das junge Mädchen mit blonden Locken greift sich die Hand ihres leicht verdatterten Freundes, verschränkt ihre Finger fest in seine und schlägt die Augen nieder. Nach zwei Minuten grölt jemand vom Bahnsteig „Ey“ in die Stille.

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In der S-Bahn, die kurz vor dem Ostbahnhof stoppt, isst eine Frau ungerührt weiter ihr mit Leberkäse belegtes Brötchen und unterhält sich mit ihrer Begleiterin. Ein Mann schläft derweil ungestört. Eine Ansage hatte es zuvor nicht gegeben.

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Mit dem Einsetzen des Läutens der St. Johannes Basilika an der Lilienthalstraße nahmen mehrere 100 Polizeibeamte auf dem Vorplatz des Polizeipräsidiums am Platz der Luftbrücke ihre Kopfbedeckungen ab und gedachten der Flutopfer.

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An allen drei Berliner Flughäfen wurden Mitarbeiter und Angestellte mit Durchsagen gebeten, der Opfer in Südasien zu gedenken. Die Arbeit im Bereich der Passagierabfertigung wurde jedoch bereits um eine Minute nach 12 Uhr wieder aufgenommen. Auch für die Fluglotsen gab es keine Unterbrechung: „Die Piloten mussten mit Informationen versorgt werden“, hieß es bei der Flugsicherung.

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Auch bei Ikea wurden Mitarbeiter und Kunden kurz vor 12 Uhr mit Lautsprecherdurchsagen gebeten, für kurze Zeit ihre Tätigkeit ruhen zu lassen. Die Mehrzahl der Kunden sei der Bitte auch gefolgt, berichtete eine Kundin in Spandau.

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Potsdamer Platz Arkaden. Die Shoppingmall: wie eingefroren. Die Männer am Bagelstand verschränken die Arme hinterm Rücken, die Bedienung am Eiscafé faltet die Hände vor der Schürze. Passanten gucken an den Einkaufstüten hinunter auf den Boden. Nur am „Asia Pavillon“ gibt es Trubel, Bestellungen und Stimmengewirr. Woher die Mitarbeiter kommen? Keine Antwort.

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Im Mercedes-Werk Marienfelde standen die Bänder still, alle der rund 1400 in der Frühschicht tätigen Mitarbeiter „haben die Möglichkeit genutzt, sich an den Gedenkminuten zu beteiligen“, sagte eine Sprecherin. Bei Siemens, mit etwa 15 000 Beschäftigten der größte industrielle Arbeitgeber Berlins, wurde mit einem Klingelton auf die Gedenkminuten hingewiesen. Weltweit sammeln die Siemens-Mitarbeiter Spenden, die dann vom Konzern verdoppelt werden. Auch bei Schering wurde es um zwölf Uhr still, während die Flaggen vor dem Werkstor auf Halbmast wehten. Tsp

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