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Kiezkultur in Moabit: Ein Dorf von Welt

In der Lehrter Straße treffen sie aufeinander: Alteingesessene, Kunstschaffende, Arbeitsuchende, Einwanderer, Laubenpieper – und die Touristen vom Hauptbahnhof. Große Bauvorhaben sind in Moabit geplant, was halten die Kiezbewohner davon?

Ein Latte Macchiato im Café Moab und schon ist man mittendrin in der Lehrter Kiez-Kultur. An den Wänden hängen Unterwasserfotografien der Ausstellung „Pool Position“, „Moabit ist beste“-Flyer liegen aus: ein Stilbruch? Das wird hier nicht so gesehen. Martin Pohlmann, Inhaber des Cafés, hält das für eine Bereicherung, kreatives Potential.

Pohlmann vergleicht den Kiez mit einem Dorf, jeder kennt jeden, auch weil viele Nachbarn schon lange hier wohnen. Vom Großstadttrubel merkt man wenig, obwohl der Hauptbahnhof direkt am anderen Ende der Straße liegt. Und wo so unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen, kommt es zu einer spannenden Vielfalt.

Das Café Moab und die Kulturfabrik, der Hauptbahnhof und das neue Hostel, diese zwei Pole markieren die traditionsreiche Lehrter Straße. Dazwischen liegt von allem etwas. Spaziert man vom Hauptbahnhof in Richtung Perleberger Straße sieht man zunächst die Mauerreste des ehemaligen Zellengefängnisses. Der frühere Gefangenenfriedhof wird schon lange als Kleingartenkolonie genutzt und steht unter Denkmalschutz. Die weiter nördlich angesiedelten Laubenpieper hingegen fürchten, bald den geplanten Neubauten weichen müssen.

Laut "Städtebaulichen Strukturkonzept", das auf der Website der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt einzusehen ist, handelt es sich bei dem Bauprojekt Heidestraße/Europacity um eine Gesamtbruttogrundfläche von ca. 610.000m², die auf Büros (58%), Wohnen (34%), Einzelhandel/ Gastronomie (5%) und Kultur (3%) verteilt werden soll. Dafür entfällt 100% verwilderte Idylle inmitten der City.

Während die kleinen Lauben rechterhand leicht übersehen werden können, drängen sich die mittlerweile fast bezugsfertigen „Townhouses“ Lehrter Straße/Seydlitzstraße geradezu auf. Die Sportplätze des Poststadions nebenan wurden erneuert, so dass der Townhousler sich problemlos austoben kann. Verdiente Erholung verspricht das angrenzende Wellnessbad „vabali spa berlin“, das zwar noch nicht gebaut ist, aber bereits engagierte Diskussionen auf der Internetseite Moabitonline.de entfacht hat. Hier ist man über die neuen Mitbewohner und exklusiven Freizeitmöglichkeiten uneins: Zwischen dem Willkommen der gut situierten Kiezaufwerter und dem Verteufeln eines drohenden Snobismus schwankt das Meinungsbild. Der emotionale Ton auf der Seite rührt womöglich von der Trauer über das stillgelegte Freibad, auf dessen Gelände die asiatische Wellnesslandschaft der Kölner Theune Spa Management GmbH entstehen wird. Die lange Zeit ungenutzte Fläche wurde seit 2006 zum internationalen Campingplatz „Tentstation“ umfunktioniert und hielt auch für Berliner abendliches Musikprogramm und eine Bar bereit.

Im Quartiersmanagement Moabit Ost, einer Art Außenstelle der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung mit dem Ziel, die Lebensqualität im Kiez mit Hilfe von gezielten Projekten aufzuwerten, schätzt man die Entwicklungen differenziert ein. „Einerseits sorgen die Baumaßnahmen für Modernität und einem ansprechenderen Auftritt des Viertels, andererseits können aber mit Modernisierungen auch Mietsteigerungen einhergehen, die viele der alt-eingesessenen AnwohnerInnen sich nicht mehr leisten können“, heißt es dort auf Nachfrage.

Gentrifizierung ist hier noch ein neueres Wort

Je weiter man ans Ende der Straße vordringt, desto ursprünglicher und alteingesessener wird es. Hinter einem weiß gestrichenen schmiedeeisernen Tor auf der noch grünen rechten Seite der Straße verkauft Wolfram Liebchen alte Türen, Dielen, Türbeschläge, Kachelöfen und viele Fundstücke aus Berliner Abrisshäusern – kurz „Antike Bauelemente“. Er ist eine Institution und weit über den Kiez hinaus bekannt, daher fürchtet er die Baupläne des Investors Vivico für das Areal in der Lehrter Straße, von denen auch er betroffen ist, nicht, sondern setzt auf eine „einvernehmliche Lösung“.

Kritisch sieht den Umbau der B(etroffenen)-Laden des Vereins für eine „Billige Prachtstraße – Lehrter Straße“ e.V. Hier werden die Ängste beim Namen genannt: Zu dichte Bebauung und Durchgangsverkehr sollen verhindert, die Erhaltung der Straße als Wohnstraße und der Gärten gefördert werden und – neue Töne in Moabit – die Gefahr der Gentrifizierung ist Top-Thema in diesen Tagen.

Das Geld der Neuen ist willkommen

Hermann aus der Kulturfabrik Lehrter Straße (KuFa) - hier nennen sich alle nur beim Vornamen - weiß schon, was er sich von den neuen Nachbarn aus der Heidestraße wünscht: „ihr Geld“. Mehr Publikum könnte der KuFa nicht schaden. Letztens erst hatte die niederländische Jazzsängerin Ilse Huizinga hier einen Auftritt: Darf man Hermann glauben, war es ein grandioser Abend – an dem leider nur sechs Gäste teilnahmen.

Hermann schaltet das Bühnenlicht nochmal an, spielt ein Stück von der Live-Aufnahme vor und zaubert damit ein bisschen Ilse zurück. Währenddessen erzählt er von der turbulenten Geschichte des Hauses, das 1911 für den Wertheim-Konzern erbaut wurde. Es beherbergte viele Facetten der Berliner Industrie, war Heeresfleischerei, Keksfabrik, Heimat für Steinmetzarbeiten und Konservendosen.

Von 1976 herrschte Stillstand bis sich 1991 Künstler, Anwohner und Studenten zu den Vereinen organisierten, die noch bis heute bestehen. 2011 feiert die KuFa 20jähriges Jubiläum. „Toleriert, akzeptiert, etabliert“, mit den drei Worten fasst Hermann die Entwicklung der letzten 20 Jahre zusammen. Die Kulturfabrik Moabit versammelt heute Kino, Party- und Konzertveranstalter, Theater und Werkstatt unter einem Dach und verspricht nicht nur ein spannendes Programm, sondern auch „kuscheliges Kiezgefühl“.

Speisen, Getränke, Mosaikkunst

Kuschelig ist es auf jeden Fall auch in dem Café „Herr der Schneider“, das erst in diesem Jahr in der Lehrter Straße 38 eröffnet hat. Der Inhaber, Barbaros Asan, lebt schon seit über 30 Jahren im Kiez und bietet neben Speisen und Getränken Mosaikkunst an.

Auch das Café „Herr der Schneider“ steht für die Vielfalt im Kiez: Es kommen islamische Gäste nach dem Besuch in der Sultan-Ahmet-Moschee nebenan, ebenso wie Künstler des Werkhofs in der Lehrter Straße 57, die Mitarbeiter des Arbeitsamts an der Straßenecke oder Jugendliche aus der Gegend.

Vor dem Laden stehen zwei Spiegel mit bunten Rahmen: Einer mit weißem Halbmond auf rotem Grund. Der andere schwarz-rot-gold gestreift.

Lina Raake

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