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Berlin: Ende einer WG

Brankica Becejac wollte mit ihren Kreuzberger Freunden leben, denken und arbeiten. Sie war sehr verliebt. Aber nicht in ihren Mann.

Susanna sitzt mit einer Freundin im Adlon. Ein Gläschen trinken, plaudern, bevor sie zum Literaturfestival wollen. Ihr Handy klingelt, es ist Knut. „Und der sagt: ,Das klingt vielleicht komisch, was ich jetzt sage, aber mich hat die Mordkommission angerufen – meine Freundin ist umgebracht worden. Kannst du bitte kommen?’ “

Es gibt Sätze, die brennen sich ein. Susanna Mende, Übersetzerin aus dem Spanischen, selbst Autorin, Ausstellungsmacherin, und Knut Gerwers, Autor und Medienkünstler, sind beste Freunde. Seit zehn Jahren. Dabei könnten sie auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein. Susanna, Jahrgang 1965, blond, gertenschlank, süddeutsch quirlig und von der stilsicheren kühlen Eleganz, bei der missgünstige Menschen sofort „arrogante LuxusZicke“ denken. Knut, etwas jünger, braune Wuschelhaare, schwarze Kleidung, einer, der in Kreuzberger Einzimmer-Ofenheizung-Tristesse wohnt, weil er in seiner kreativen Radikalität nicht erpressbar sein will. Ein schmaler, stiller Mann mit einem Hauch Jim Morrison, aber ohne dessen Exhibitionismus.

„Ich bin in einer halben Stunde bei dir“, sagt Susanna gefasst. Nur ihre Hand zittert, als sie der Freundin den Abbruch des Programms erklärt, so dass das Glas  fast runterfällt.

Es ist Donnerstag, der 14. Juni 2001. Knut Gerwers hat zu diesem Zeitpunkt bereits den Moment hinter sich, der sich einbrennt: „Ab heute lebst du in einer anderen Welt.“ Der kam, nachdem er eine Zeit lang in seiner Wohnung herumgetorkelt war wie „in einem luftleeren Raum“ und mit sich selbst geredet hatte, als er auf die Straße ging, Zigaretten holen. „Als hätte jemand die Uhr anders gestellt. Ab jetzt tickt dein Leben anders, weil du in einer Erfahrungswelt lebst, die kaum jemand teilen kann.“

Die Katastrophe kam aus dem heitersten aller Himmel - dem „Himmel voller Geigen“. Brankica und Knut sind frisch verliebt. Seit drei Wochen. Ein Paar, das es noch gar nicht richtig gibt. Susanna merkt, dass es Knut „richtig erwischt hat. Er war glücklich, und das hatte sehr viel mit intellektueller Anziehung zu tun. Mit Mitte, Ende Dreißig so jemanden zu finden - das ist ein Glücksfall. Ein Geschenk.“ Sie waren sich zufällig begegnet und hatten sich erst fünf-, sechsmal überhaupt getroffen. Ihre Intensität, ihre Eigenheit hatten ihn sofort fasziniert. „Eine schöne Frau. Eher klein, schmal, dunkelblonde Haare. Und ein erstaunliches Lachen. Sie hatte eine Ader für etwas ,böseren’ Humor.“ Wie er. Sie können gut zusammen lachen.

Brankica Becejac ist überhaupt eine erstaunliche Frau. Geboren 1970 in Novi Sad als einziges Kind eines serbischen Vaters und einer kroatischen Mutter, die „Gastarbeiter“ in Hannover sind. Dort geht Brankica zur Schule und zur Universität. Es sind harte Zeiten, mit viel offener und noch mehr unterschwelliger fremdenfeindlicher Aggression. Brankica wird das später in einem wunderschönen Essay beschreiben. Die Mutter arbeitet als Metallschleiferin. „In der goldenen Zeit aber war meine Mutter Lehrerin für Geschichte und Geographie an einem Gymnasium in Zagreb.“ Bis es sie in eine andere Welt verschlägt. In einem Ausländerheim lernt sie ihren Mann kennen. „Einen Metaller und fabelhaften Fußballer. Für so einen verwegenen, charmanten, klugen und hübschen  Jungen hatte sie sich aufgespart.“ Irgendwann in den 90er Jahren schlägt ihr ein Glatzkopf mit einem Knüppel die Hand blutig. Mitten in der Straßenbahn in Hannover. Die Mitfahrer gaffen und grinsen.

Gewalt wird früh Brankicas Thema. Nicht nur  physische. Sondern immer mehr die heimlichen Gewaltstrukturen zwischen den Geschlechtern, Klassen, Ethnien. Ihre eigene unmittelbare Erfahrung läuft über Ausgrenzung durch Sprache. Man lässt sie spüren, dass es für ein Migrantenkind ungehörig ist, besser Deutsch zu können als die Deutschen. Oder überhaupt gut Deutsch. Es fühlt sich jedesmal an wie eine Ausweisung. Ihre Magisterarbeit schreibt sie über Ingeborg Bachmanns „Malina“, einen Roman, der mit dem Satz endet: „Es war Mord.“

Brankica Becejac testet Grenzen, nimmt sich unerhörte intellektuelle und sexuelle Freiheiten, mit Frauen und mit Männern. Für sie ein ästhetisch-politisches Projekt, für ihre Eltern fremd. Sie gründet während des Studiums mit zwei Kommilitonen eine WG, auch die ein Programm: gemeinsam leben, denken und arbeiten. Mit hoher Intensität. Eine Art think-tank für Literatur, Soziologie, Philosophie, die digitale Welt und das Leben jenseits von „Spießerkonventionen“. Gemeinsam ziehen Brankica, Horst und Jürgen 1999 nach Berlin. In eine große Wohnung, da wo Neukölln nur eine Landwehrkanalbrücke entfernt von Kreuzberg ist. Brankica wird rasch zur öffentlichen Stimme, schreibt Essays für die Wochenzeitung „Freitag“, hellsichtige, präzise Beobachtungen über Rechtsradikale oder das balkanische Drama. Auch Jürgen veröffentlicht. Nur Horst, Brankicas Lover, mit dem sie auch förmlich verheiratet ist, kriegt in Berlin keinen Boden unter die Füße. So eine Metropole, „ein bisschen roh und in sich gebrochen, die Talente aufsaugt und nutzt, die experimentiert, in der nicht zählt, was man anderswo davon hält“, wie der ehemalige US-Botschafter Kornblum mal gesagt hat, ist womöglich zu prosaisch-banal für einen Philosophen, der, gemeinsam mit der Geliebten, über „Rekonstruktion und Tötung von Weiblichkeit in Bild und Schrift“ theoretisiert und publiziert und über Nietzsche und Benn arbeitet. Vielleicht kränkt es den Sohn aus wohlhabendem Haus auch tiefer als programmatisch vorgesehen, wenn die Geliebte mit dem Arbeitermigrantenhintergrund mehr Erfolg hat. Vielleicht ist das WG-Projekt auch schlicht zu Ende. So wie alle Projekte irgendwann.

Im Frühsommer 2001 ist die WG jedenfalls in Auflösung begriffen. Am 15. Juni wollen Brankica und Jürgen in eigene Wohnungen ziehen. Am 14. Juni will Horsts Vater nach Berlin kommen und seinem Sohn eine eigene Wohnung kaufen. Am 13. Juni um halb neun haben Brankica und Knut ein Date im „Würgeengel“, Knuts Kreuzberger Lieblingskneipe. Brankica „quoll fast über vor guten Nachrichten“, sagt Knut. Ein Verlag hat Interesse an der Novelle bekundet, an der sie unbedingt weiterschreiben will. Die Wohnsituation verbessert sich schneller als gedacht - was auch endlich Spielraum für die frisch Verliebten bedeutet. Selbstverständlich weiß Horst von Knut. Auch über Beziehungen hat die WG nächtelang diskutiert. Eifersucht wird nicht gern genommen in unkonventionellen Lebenszusammenhängen. Kleinbürgerliches Besitzdenken. Trotzdem scheint Horst in letzter Zeit wackeliger denn je. Macht suizidale Andeutungen. Hat einen Strick in der Schublade. Alle wissen es. Alle kümmern sich.

Auch Brankica und Knut reden über die Krise. „Sie hat nie gesagt, ich lass ihn fallen. Es war eine völlig offene Situation.“ Gegen drei brechen sie auf, gehen das Stück Weg gemeinsam, das sie beide haben. „Bis zur Grimmstraße. Und dann ist sie nach Hause gegangen und ich auch.“ Erstaunt, dass er dieser Frau nach nur drei Wochen einfach „die drei großen Worte“ zu sagen gewagt hat. Euphorisiert. Gleichzeitig besorgt, weil seine Liebste in eine so gespannte Situation zurück muss.

Gegen eins steht er auf, macht sich Kaffee, liest Zeitung. Irgendwann klingelt das Telefon. „Es meldete sich die Kripo. Ich hab noch gesagt: ,Oh, das klingt ja bedrohlich!’ Mit so ’nem halben Lachen. Und dann fragt die Kommissarin, ob ich gestern Abend mit Brankica zusammen war, und sagt, ich soll mich erstmal hinsetzen.“  Zu dieser Zeit liegt Brankica Becejac auf dem Sektionstisch mit acht tiefen Messerstichen in Hals und Herzgegend und mehreren  Hammereinschlägen auf dem Kopf. Die Obduzentin hat Knuts Kärtchen in einer Tasche gefunden. Verdächtigt wird er nicht. Aber er soll trotzdem am nächsten Tag zur 6. Mordkommission in die Keithstraße. Die Kripo hofft, vermutet Knut heute, „ich könnte ihnen sagen: Ja, Brankica ist da mit Pauken und Trompeten eingeritten und hat das große Ende verkündet, daraufhin ist Horst ausgerastet. Aber es war eher das Gegenteil, was ich denen erzählen konnte.“

Die ersten Stunden nach dem Einbruch der Katastrophe kann er nicht mehr rekonstruieren. Irgendwann ruft er Susanna an. Die spielt im Taxi die Szenarien im Kopf durch. „Du musst vielleicht gleich die 110 rufen, der rastet völlig aus, schmeißt sich dir an den Hals, schlägt irgendwas kaputt, tut sich was an. Rechne mit allem!“ Nichts davon passiert. Knut ist stumm. Dann fallen Satzbrocken aus ihm heraus. Über die letzten Wochen, über Brankica, die Susanna nicht persönlich kennt, über den Anruf. Drei, vier Stunden lang. Suchen irgendetwas, das hinaushilft über den unfassbaren Satz: Horst hat Brankica erschlagen und erstochen und sich aufgehängt. Informationen, die irgendetwas erklären, irgendeine Ruhe verschaffen können.

Der Schock hält tagelang an, bei allen, die der WG nahe gestanden hatten. Literaten, Journalisten, Theaterleute, die sich nach und nachmiteinander vernetzen und mit den Eltern beider Toten Kontakt aufnehmen. Sie tragen zusammen, was sie erfahren. Allmählich entsteht ein Bild von dem, was in der Nacht vom auf den 14.Juni gegen fünf Uhr geschehen sein muss. Jürgen war von Schreien aus dem Schlaf gerissen worden. Brankicas Schreien. Er war auf den Flur gerannt, wo Horst mit einem Hammer auf Brankica einschlug und Brankica sich erbittert wehrte. Er war dazwischengegangen, wollte Horst den Hammer entwinden, hatte Schläge abbekommen und Horst in die Küche laufen sehen, ein Messer holen. Dann war er über den Balkon gesprungen, Hilfe holen. Die Polizei fand ihn blutend in einer Bäckerei, Brankica tot im Flur und Horst erhängt am Lampenhaken. Und einen Abschiedsbrief, der mit dem Satz endet. „Es war Mord.“

„Tötungsdelikte mit anschließender Selbsttötung gibt es vier bis acht pro Jahr in Berlin“, sagt Konrad Zehnpfenning, der Leiter der 6. Mordkommission. Vergleichsweise selten, angesichts der insgesamt gut hundert vollendeten und versuchten Tötungen pro Jahr. Auch diese Gesamtzahl ist beruhigend klein für eine 3,5-Millionen-Stadt, und die Aufklärungsrate ist beruhigend hoch, knapp unter hundert Prozent. Einfach zu bearbeiten sind die anderen Fälle deshalb nicht unbedingt. „Wir ermitteln schon sehr sorgfältig, ob es sich wirklich um Selbsttötung handelt oder nicht doch eine dritte Person eine Rolle gespielt hat.“ Die Befunde der Tatortuntersuchung und der Rechtsmedizin können das in diesem Fall mit Sicherheit ausschließen. Der Vorgang hat in einem einzigen Aktenordner Platz - zwei Zentimeter Berichte, der Rest bildliche Dokumentation. „Wir haben zu solchen Fällen die gleiche emotionale Beziehung wie zu anderen auch. Natürlich berührt einen eine besonders brutale Begehungsweise stärker, keine Frage. Aber es ist eben unsere Arbeit“, sagt der Erste Kriminalhauptkommissar. Ein Zufall, dass ausgerechnet seine Kommission dran war an Fronleichnam 2001 – Zehnpfenning ist literarisch interessiert. Joyce-Fan sogar. Das ist privat, das spielt für seine Arbeit keine Rolle. Aber so jemand merkt sich, wenn eine große WG-Wohnung aussieht „wie mehrere gut sortierte Bibliotheken – sehr beeindruckend. Und eher ungewöhnlich für uns.“

Knut Gerwers beeindruckt das Schild am Eingang der Keithstraße 30. Er erwartet „Mordkommission oder sowas“. Aber da steht „Delikte am Menschen“. Er starrt es ungläubig an. „Wäre eigentlich ein perfekter Buchtitel!“ Im ersten Stock rennt er in Stellwände mit Bildern von Toten und Tatorten. „Sehr naturalistisch!“ Ausgerechnet in jenen Wochen feiern die Berliner Mordkommissionen ihr 75-jähriges Bestehen mit einer – ja auch: „Leistungsschau“.

Er taumelt auch nach dem Gespräch mit der Kommissarin noch Wochen und Monate durch Zeit und Raum, sagt Susanna Mende. Anfangs weicht sie ihm kaum von der Seite. „Pflegestufe Eins“, kann sie heute spötteln. „Aber er hatte ja alles Recht, rundum betreut zu werden. Es kann doch nicht wahr sein, dass man so jemanden völlig allein lässt!“ Sie kocht, streichelt, lenkt ihn ab, ist seine Realitätsinstanz. „Das Schlimmste ist, zu  spüren, wie einer leidet, und du kannst ihm nicht mal einen Bruchteil von seinem Schmerz abnehmen.“ Aber sie kann auch ihrerseits mit kaum jemandem darüber kommunizieren. So eine Geschichte – wem kann man die zumuten? Für wen ist die nicht zu intim?

Mit Knut geht Reden. Und es tut gut. Ganz ganz langsam. Nach dem Schock kommt die Trauer. Ein plötzlicher Wutschwall gegen Horst. Dann wieder die Vorstellung, wie Brankica gestorben ist. „Im schlimmsten Fall hat sie es lange mitbekommen, unter sehr starken Schmerzen“, grübelt Knut. „Das war ja nicht irgendein ,normaler’ Tod, sondern Mord. An jemandem, der du ein paar Stunden vorher gesagt, dass du sie liebst.“ Er schreibt viel, vernetzt sich mit „ihrem Kreis“. Sie machen ein Buch zusammen, mit Texten von Brankica Becejac und denen, die ihr im Leben nahe waren. Es wird im Herbst bei Nautilus erscheinen.

Sein Schreiben verändert sich. Er wird ruhiger, steht nicht mehr lange am Fenster im vierten Stock. Sinnlose Schuldgefühle immerhin hat er nicht. Er war ja allenfalls eine Art „Brandbeschleuniger“. Das Wort finden Susanna und er gemeinsam. Aber das nimmt natürlich die Zerstörungsgewalt des Brandes auch nicht zurück. „Das Merkwürdige an diesem Verlust ist“, sagt Knut zweieinhalb Jahre nach der Tat, „du trauerst nicht um was, was vergangen ist, du trauerst um Zukunft, die dir entzogen wurde. Um ein riesiges Versprechen, das mit der Zeit immer größer wird. Statt kleiner.“

Lebenslänglich. Und wenn dagegen überhaupt etwas ankommen kann, dann Gegenwart.

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