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Berlin: Erfolgserlebnis und Herausforderung

Neuköllnisch als Unterrichtsfach – ein Modellversuch birgt neue Chancen

Kevin ist an der Reihe, und er tut sich schwer. Gerade hat Lehrerin Gunda Höffner dem Elfjährigen eine Aufgabe gestellt: „Kevin, übersetz das doch mal in Neuköllnisch: Ich geh jetzt ins Columbiabad, ein paar nette Mädchen treffen.“ Kevin stottert. „Isch geh, also, isch geh ins Columbiabad …“ „Nein“, unterbricht ihn die Lehrerin, „so geht das nicht. Murat, zeig ihm das doch mal!“ Murat verzieht ein wenig verächtlich den Mund: „Isch geh Kulle, weisstu, voll dem geiln Tussn klarmachen, Alde.“ Lehrerin Höffner ist begeistert. „Gut, Murat“, sagt sie und räuspert sich, „ultrakrass, ich schwör!“

Was wie die Parodie auf eine entgleiste Schulstunde aussieht, ist in Wirklichkeit ein pädagogischer Ansatz, der nicht zufällig in Neukölln erprobt wird: Die von jungen Türken und Arabern geprägte Jugendsprache wird bei Fünftklässlern der Friederike-Kempner-Grundschule im Rollberg-Viertel fächerübergreifend eingeführt. Der FU-Soziolinguist Friedhelm Zweifel, der das Projekt wissenschaftlich begleitet, erläutert den Ansatz: „Wir gehen davon aus, dass die von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund entwickelte Verkehrssprache sich weiter ausbreiten wird. Darauf muss die Schule reagieren: Der Neuköllnisch-Unterricht, wie wir ihn nennen, verschafft nicht nur den Migrantenkindern Erfolgserlebnisse, sondern ist auch eine Herausforderung für die deutschen Kinder.“ Zweifel verweist darauf, dass deutsche Kinder auf von Migranten geprägten Schulen schon jetzt diese Kunstsprache nutzen, um nicht aufzufallen und akzeptiert zu werden: „Nur müssen sie es eben richtig können, und dabei ist die Schule gefordert.“

Luzie-Marie, zehn Jahre, ist in allen Fächern die Beste. Sie hat sich auch in „Neuköllnisch“ schnell eingearbeitet und kann sogar ihren Klassenkameraden noch etwas beibringen. „Luzie-Marie“, sagt die Lehrerin, „sag uns mal, wie dir die Schule gefällt.“ Das Mädchen steht auf, reckt die rechte Hand provozierend in Richtung der Lehrerin und legt los: „Hey, Alde“, kreischt sie, „isch geh Schule, wie isch Bock hab, weisstu! Hab isch gekriegt zehn Einser, aber scheiß mir egal, isch schwör!“ Klassenkamerad Murat ist angetan: „Voll aggro, die Braut.“ Die Lehrerin analysiert: „Durch diesen Unterricht werden auch die schüchternen Mädchen angeregt, sich offensiv einzubringen und nicht jede Demütigung hinzunehmen. Das stärkt ihre Position im Klassenverband.“ Friederike zeigt währenddessen einem hinter ihr sitzenden Jungen den Stinkefinger, ihre Zöpfe fliegen: „Was geht, bisstu scheiße im Kopf, oder was?“

Doch nicht nur der Deutschunterricht eignet sich für die Erprobung. Im Musikraum studiert die Fachlehrerin Heide Witzke gerade einen beliebten Kanon ein: „Froh zu sein, bedarf es wenig.“ Sie erläutert, dass die Neuköllnisch-Fassung von der 5c selbst erarbeitet wurde, und gibt vom Keyboard einen schleppenden Rhythmus vor. „Eins, zwei, drei, vier“, zählt sie, und die erste Gruppe der Klasse setzt ein: „Krass fett drauf sein ist voll einfach und bekommsu geile Kick von.“ Der Reim bleibt zwar in dieser Fassung aus, aber das macht nichts, wie Wissenschaftler Zweifel findet: „Reime sind gewissermaßen psychoakustische Klassenschranken, die die Migrantenkinder von elaborierteren Sprachebenen ausschließen. Wir befreien die Sprache mit solchen Texten vom Reimzwang.“

Trotz des Erfolgs bleibt die Schulverwaltung skeptisch: „Wir beobachten das genau“, sagt ein Sprecher, „aber ich glaube nicht, dass der Neuköllnisch-Unterricht außerhalb des Bezirks eine große Zukunft hat.“

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