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Berlin: Gerda Leuthold (Geb. 1921)

Für den Verkauf war Werner zuständig, sie für die Bücher

Die Markthalle Neun in Kreuzberg, der Büroartikel-Stand der Leutholds: Keinen einzigen Artikel gab es aus irgendeiner zufälligen Laune. Jedes noch so kleine Stück hatte seinen Verkaufsgrund und seinen abgezirkelten Verkaufsplatz. Er stach entweder direkt ins Auge oder war schnell vom Tresen aus zu erreichen. Wo kein Raum war, musste Platz geschaffen werden. Doch bevor er einen Platz in der Auslage erhielt, wanderte jeder Artikel durch das Wareneingangsbuch. Nach dem Verkauf wurde das Produkt erst durch Eintrag ins Warenausgangsbuch von den Zwängen der ordentlichen Buchhaltung befreit.

Hüterin des Reichs der ein- und ausgehenden Waren war Gerda Leuthold. Sie und ihr Mann Werner sowie ihre vier Kinder bildeten den Kern des Familienunternehmens. Schon in den fünfziger Jahren besaßen sie ein Telefon mit Standleitung zwischen zu Hause, Stand und Spielzeugladen. Das Leben spielte sich zwischen zwei Kreuzberger Straßen ab: der Pückler- und der Eisenbahnstraße. In der einen wohnten sie, in der anderen betrieben sie den Spielzeugladen, und genau dazwischen befand sich die Markthalle Neun mit dem Kerngeschäft.

15 Meter lang, zwei Meter tief, voll gestopft mit allem, was Schreibtisch und Kinderzimmer vor der Erfindung des „Commodore 64“ bargen, vom Kugelschreiber bis zur Tuschefeder, vom Radiergummi bis zur Büroklammer und natürlich „Luftballönners und Pistoleurs“, denn Spielzeug ging immer. Kistenweise Knaller zu Silvester gingen über den Tresen und zu Weihnachten Markenfüller für die Geschenkpakete in den Osten.

Gerda kümmerte sich um die Bücher, Werner um den Verkauf. Im blauen Kittel über Anzug und Krawatte lehnte er wie eine übergroße Kasperlfigur im Tresenfenster des Standes und lockte Kundschaft an. Glaubt man der Laudatio, die ihm ein Freund zum 65. Geburtstag schrieb, waren er und der Stand eine Art Gesamtkunstwerk der Markthalle. Berüchtigt für seine Zoten und den Schnaps, den er für die Vertreter und Grossisten unterm Tresen bereithielt, redete er sich in die Annalen der Halle. Ein schlagfertiges Verkaufsgenie mit einem freundlichen, zuweilen merkwürdigen Humor. Am Telefon meldete er sich gerne mit „Hier Wetterstation Kilimandscharo!“ Aus dem Absurden ließ sich immer ein Verkaufsgespräch entwickeln. Gerda war genau das Gegenteil, die Ruhe in Person, seriös und gewissenhaft. Genau deshalb passten sie so gut zusammen.

Schon ihre erste Begegnung beruhte auf höherer Fügung. Gerda, schlanke 16 Jahre alt, ging mit ihrer Freundin tanzen. Werner, sechs Jahre älter, sah beide und wollte die Freundin zum Tanzen auffordern, die aber guckte verschämt zu Boden, während Gerda ihm offen in die Augen sah. Einige wilde Tanzstunden später verzichtete er auf sein geliebtes Motorrad, um Gerda zu Fuß nach Hause zu begleiten. Motorradfahren mochte sie nicht. Schon bald schmiedete er ihr einen Siegelring mit seinen Initialen, damit sie ihn, der an die Front musste, nicht vergaß. Wie konnte sie? In fünf Kriegsjahren brachte sie vier Kinder zur Welt, allesamt von ihm im Fronturlaub gezeugt. Den Ring trug sie bis an ihr Lebensende.

Die Geschäfte gingen gut, bis die Discounter ihnen das Feld streitig machten. Gegen das Prinzip der hohen Auflage zum kleinen Preis waren sie machtlos. Die Miete in der Markthalle war nicht gerade günstig, nun kamen Preisdruck und der Schnäppchenhunger der Kunden hinzu. Was nützte die geniale Verkaufsschnauze, wenn der Laden um die Ecke alles günstiger anbot? Mitte der Achtziger übergaben Gerda und Werner die Geschäfte der ältesten Tochter und zogen nach Bad Oeynhausen. Die Liebe zu Berlin führte sie 15 Jahre später wieder zurück.

Nach Werners Tod 2001 verbrachte Gerda ihren Lebensabend in einem kleinen, mit allerlei Büchern, Fotos und bunten Kinderbildern ausstaffiertem Zimmer eines Altenstifts. Ihr rot gepolsterter Freischwinger stand an der langen Wand, ein wenig wie auf einem Stand. Dort saß sie und lauschte hingegeben dem Gitarrenspiel des Urenkels, der sie besuchte: „Das hast du wirklich schön gemacht!“, kommentierte sie. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, was sie von der Revitalisierung der Markthalle Neun in Kreuzberg hielt: Fand sie großartig, natürlich.

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