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Berlin: Trotzdem geboren

Ein Kind mit Down-Syndrom auf die Welt bringen – oder abtreiben? In zwei von drei Fällen sagen Eltern heute: Abtreibung. Auch Ärzte kritisieren nun diesen „Reflex“. Dabei werden die Möglichkeiten, Behinderte zu fördern, immer besser

„Michelle ist ein stinknormales Kind. Sie ist willensstark, dickköpfig, temperamentvoll, und sie macht uns viel Freude“, sagt Anke Skwirawski. Michelle ist das dritte Kind der Reinickendorfer Familie. Michelle hat Trisomie 21. Aber das Wort „normal“, das taucht sehr oft auf, wenn die Familie von Michelle erzählt.

Dass Michelle so normal aufwächst, ist nämlich durchaus unnormal. Sie kam vor fünfeinhalb Jahren mit einer Trisomie 21 auf die Welt. Michelle gehört zu den etwa 40 000 Menschen in Deutschland, die in ihren Körperzellen drei statt zwei Exemplare des Chromosoms Nummer 21 tragen. Die Veränderung der genetischen Information kann recht unterschiedliche Folgen haben. Bei Michelle merkt man heute wenig davon. Sie kam mit mehreren schweren Herzfehlern auf die Welt, die aber gleich zwei Monate nach der Geburt operiert wurden. Mit Erfolg.

Vor 30, 40 Jahren kannte noch fast jeder ein „mongoloides“ Kind. Seitdem hat sich viel verändert. Käme unter natürlichen Bedingungen etwa eines von 700 Kindern mit einer Trisomie 21 auf die Welt, so ist es heute eines von 2000. Bei sieben von zehn Embryos, die die Veränderung tragen, stellt sich das schon bei der vorgeburtlichen Diagnostik heraus. Und in neun von zehn Fällen folgt dem ein Schwangerschaftsabbruch. Das heißt, dass insgesamt zwei von drei Feten, die das veränderte Chromosomenbild zeigen, nicht ausgetragen werden.

Die Eltern, die sich anders entscheiden, müssen sich oft kritische Bemerkungen gefallen lassen. Eine große Elternbefragung hat kürzlich festgehalten, dass fast ein Drittel der Eltern, die ein Kind mit Down-Syndrom haben, schon einmal darauf angesprochen wurde: Hätte man das nicht vorher wissen können? Unausgesprochen steht die Frage dahinter: Hättet ihr nicht abtreiben können? Wieso tut ihr euch das an?

Erst die vorgeburtliche Feststellung einer Behinderung – und schon läuft alles auf Abtreibung hinaus: Ein „reflexhafter Mechanismus“ sei das, kritisiert auch Joachim Dudenhausen, Leiter der Klinik für Geburtsmedizin der Charité Mitte und Vorsitzender der Stiftung für das behinderte Kind. Dieses Denken beginnt aber noch früher im System. Ein Beispiel: Ist eine Schwangere über 35, dann zahlt die Krankenkasse zusätzlich zum dreimaligen Ultraschall andere Formen der Pränataldiagnostik wie eine Untersuchung des Fruchtwassers (Amniozentese) und des Mutterkuchens (Chorionzottenbiopsie), mit denen man ein Down-Syndrom recht sicher erkennen kann. Viele halten es für die automatische Folge, dass ein betroffener Embryo abgetrieben wird. In Wirklichkeit muss zwar eine Entscheidung fallen – die ist aber nicht vorgegeben. „Sie hängt auch davon ab, wie man die Eltern berät“, sagt Joachim Dudenhausen. „Immer wieder klagen Eltern, wie unzureichend die Informationen über zu erwartende Behinderungen sind“, sagt Eberhard Schwinger, Leiter des Instituts für Humangenetik am Uniklinikum Lübeck.

Anke Skwirawski, zu jener Zeit 33, nahm damals gleich Kontakt zu Eltern aus einer Selbsthilfegruppe auf. Wie geht es anderen Eltern, die sich entschieden haben, das Kind zu bekommen, wollte sie wissen. Und sie bekam Antworten, die sie nicht erwartet hatte. „Das Bild, das die Gesellschaft heute vom Down-Patienten hat, kommt von Menschen, die inzwischen erwachsen sind, und es ist deutlich überholt“, sagt der Humangenetiker Schwinger. Heute erreichen zum Beispiel 30 Prozent der Kinder einen Schulabschluss, die meisten lernen trotz ihrer Behinderung Lesen und Schreiben.

Wichtige Voraussetzung ist die frühe medizinische Versorgung mit Hilfen zum Hören und Sehen. Denn die sogenannten Schallleitungsstörungen gehören zum Syndrom, und überdurchschnittlich viele Kinder sind fehlsichtig. Bleibt das unerkannt, dann wirft es die in ihrer Entwicklung ohnehin langsameren Kinder noch weiter zurück. Außerdem brauchen sie Physiotherapie und Hilfe bei der Sprachentwicklung. Solche Frühförderung, aber auch der Kontakt zu gesunden Kindern, zum Beispiel in Kitas, machen ein selbstständigeres Erwachsenenleben möglich. Anke Skwirawski hofft, dass Michelle nächstes Jahr eine ganz normale Grundschule besuchen kann. „Wir wollen sie nur ein Jahr zurückstellen lassen, damit sie einen möglichst positiven Start hat.“

Übrigens: Auch wenn es früher mehr Menschen mit Trisomie 21 gab, waren kaum Ältere darunter. 1929 lag die Lebenserwartung bei neun Jahren. Heute können Folgen wie Herzfehler oder Blutkrebs behandelt werden; Down-Patienten werden durchschnittlich 60 Jahre alt.

Adelheid Müller-Lissner

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