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Jugend: Süchtig nach der Scheinwelt

Immer mehr Kinder und Jugendliche sind abhängig von Computerspielen oder Internetchats. In zwei neuen Berliner Medienambulanzen wird ihnen geholfen.

Das zierliche Mädchen sitzt in sich zusammengesunken da, das blasse Gesicht lässt kaum eine Regung erkennen. Trotzdem wirkt die 14-jährige Klara (Name geändert) freundlich und höflich auf die Therapeutin, die ihr gegenübersitzt. Schon seit einem halben Jahr ist Klara nicht in die Schule gegangen. Ständig hatte sie in letzter Zeit Kopf- und Rückenschmerzen, doch die Ärzte haben keine Ursache gefunden. Als sie dann auch noch mehrfach davon sprach, sich das Leben nehmen zu wollen, brachten die Eltern sie in die Vivantes-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Gegen Ende der Therapiestunde wird Klara plötzlich lebhaft. Auf der Suche nach Interessen hat die Therapeutin das Gespräch auf Computerspiele gebracht. Die Realschülerin erzählt, dass sie in einem bestimmten Auto-Computerspiel Expertin ist. Es wird klar, dass sich das Mädchen in dieser virtuellen Welt eine Art zweite Existenz aufgebaut hat, in die sie sich so oft wie möglich zurückzieht. In dieser Welt ist sie in ihrem Element. Die „reale“ Welt blendet sie aus.

In den letzten Wochen war in allen Medien viel von den Gefahren der Computerspiele die Rede. Dabei ging es fast nur um „Killerspiele“, bei denen Jugendliche die Perspektive bewaffneter Schützen einnehmen. Angesichts der Frage, ob solche Spiele junge Menschen zu Gewalttätern und Amokläufern machen können, drohen die leiseren Gefahren unterzugehen. Zum Beispiel, dass Klaras ganze Entwicklung und sogar ihr Leben gefährdet ist, das nur noch um ein - gar nicht einmal gewalttätiges - Spiel kreist.

„Wenn man wirklich verstehen will, wie Abhängigkeit von modernen Medien entsteht, hilft weder Verharmlosung noch die momentane Aufregung", sagt Oliver Bilke, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in den Vivantes-Kliniken Hellersdorf und Humboldt. Gerade wurden in den beiden Kliniken Medienambulanzen eröffnet. Dort werden Kinder und Jugendliche behandelt, die abhängig vom Internet und anderen Medien sind. In manchen Fällen sind diese Kinder erst acht bis zehn Jahre alt. Auch Eltern, die sich Sorgen um eine mögliche Abhängigkeit ihrer Kinder machen, können sich in der Ambulanz beraten lassen. Sie fühlen sich oft machtlos, wenn ihre Söhne oder Töchter Tag für Tag mehr als sechs Stunden vor dem Rechner sitzen. Wollen die Eltern etwas dagegen unternehmen, gibt es meist Streit. Die Jugendlichen ziehen sich von der Familie zurück, ebenso von ihren Freunden und werden schlechter in der Schule. Sie bewegen und pflegen sich kaum noch, schlafen zu wenig, vergessen das Essen oder ernähren sich nur noch von Fast Food.

Es ist eine neue Form der Abhängigkeit, zu der es noch wenig wissenschaftliche Daten gibt. „Wir sehen in letzter Zeit zunehmend junge Patienten mit Medienauffälligkeiten bei uns in der Klinik", sagt Bilke. Sechs bis neun Prozent der aktiven Spieler seien von den Online-Spielen abhängig, schätzt der Psychologe Klaus Wölfling von der Abteilung Medizinische Psychologie und Soziologie der Uni-Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Mainz, wo gerade ein „Kompetenzzentrum Verhaltenssucht“ aufgebaut wird. Noch streiten die Ärzte allerdings darüber, ob eine solche Abhängigkeit ohne „echten Stoff“ überhaupt als Sucht bezeichnet werden kann.

Aber ob man nun von „multipler Medienabhängigkeit“ oder von „Online-Spielsucht" spricht: Wichtiger ist, dass sich die Erwachsenen ein wenig mit den Spielen oder in den Chatrooms auskennen. „Wer einen Jugendlichen mit einem Medienproblem behandelt, sollte sich mit den Inhalten dessen auseinandersetzen, was er dort macht“, fordert Bilke. Das haben er und seine Mitarbeiter, darunter auch Klaras Therapeutin, getan. Der Psychiater wünscht sich, dass die Spiele im Hinblick auf ihr Abhängigkeitspotenzial klassifiziert werden. Denn das, was an den Spielen abhängig macht, sind die Erfolgserlebnisse. Die Therapeuten müssen also verstehen, welche Belohnungen, die Spiele bieten. „Schließlich wird auch keiner von der Flasche abhängig, sondern vom Alkohol, den sie enthält“, sagt Bilke.

Entscheidend ist auch, auf welche jugendlichen Persönlichkeiten solche Inhalte treffen. Stille, zu Depressionen neigende Jugendliche wie Klara kompensieren mit ihren Erfolgen in fiktiven Welten oft soziale und schulische Enttäuschungen. Viele haben Teilleistungsstörungen wie etwa eine Legasthenie. Daneben gibt es aber auch eine zweite Gruppe von Spielern: Die quirligen, oft hyperaktiven Jugendlichen, die ständig nach neuen Attraktionen suchen und sich sonst nicht lange konzentrieren können. Im Netz punkten sie mit Schnelligkeit. Wenn solche Auffälligkeiten hinter der krankhaften Mediennutzung stehen, reicht Erziehungsberatung, die Eltern den Rücken stärkt, meist nicht aus. Nur eine Therapie, die an verschiedenen Punkten gleichzeitig ansetzt, kann helfen.

Eine Internetabstinenz auf Dauer verordnen die Kinder- und Jugendpsychiater ihren Patienten dabei jedoch nicht. Für immer offline zu leben kann nicht die Lösung sein, das ist anders als bei Zigaretten, Joints und Alkohol. Als geheilt können Jugendliche gelten, wenn sie das Netz wieder nutzen, ohne dass es ihre Entwicklung beeinträchtig.

Kontakt zu den Vivantes-Medienambulanzen: Klinikum Hellersdorf, Myslowitzer Straße 45, Tel. 130183730; Humboldt-Klinikum, Am Nordgraben 2, Tel. 130123010; Informationen zum Thema auch unter: www.onlinesucht.de

Adelheid Müller-Lissner

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