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European Focus #20: Wie der Krieg die Ukraine verändert

+++ Das Religiöse ist politisch +++ Zahl der Woche: 18 Prozent +++ Oligarchen-Dämmerung +++ Anstecker der Hoffnung +++ Beschleunigte Entrussifizierung +++

Hallo aus Kiew,

der Frühling 2022 war definitiv der härteste in der Geschichte der modernen Ukraine – und der vielleicht der schmerzhafteste im Leben vieler Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer. Wir erlebten ein neues Ausmaß an Angst, Unsicherheit, Empörung und Wut. Gleichzeitig waren es für mich und viele andere Menschen im Land, mit denen ich gesprochen habe, aber auch glückliche Monate.

Wir fühlten uns geeint wie nie zuvor und taten alles in unserer Macht Stehende für das Gemeinwohl. In der Kiewer U-Bahn hatte man das Gefühl, dass alle Fahrgäste wirklich ein und derselben Gesellschaft angehörten. Manchmal traurig, manchmal konzentriert, bewegten wir uns alle gemeinsam in eine Richtung – nicht nur physisch.

Dieser Krieg nimmt uns viel. Leben, Gebäude, Hoffnungen und Pläne werden zerstört. Doch einige Dinge verändern sich auch zum Besseren, wenn auch zu einem schrecklich hohen Preis. Zum Beispiel ist der Einfluss der Oligarchen in der Ukraine sehr stark zurückgegangen. Russische Straßennamen und Denkmäler verschwinden; wir streifen unser koloniales Erbe ab.

In dieser Ausgabe zeigen ukrainische Journalistinnen und Journalisten, was die Ukraine nach einem Jahr Krieg verloren und hinzugewonnen hat. Klar ist: Wir verändern uns gerade immens.

Anton Semischenko, dieswöchiger Chefredakteur

Das Religiöse ist politisch

In ukrainischen Städten geschehen an einem Sonntagmorgen um 9 Uhr viele Dinge gleichzeitig. Die Gottesdienste in den jeweiligen Kirchen beginnen. Über Lautsprecher wird eine landesweite Schweigeminute für die im Krieg Gefallenen angekündigt. In einem Online-Chatroom kommt die Nachricht: „Russische Raketen könnten bald aus dem Schwarzmeergebiet abgefeuert werden.“

Am Morgen des 19. Februar läuten die Kirchenglocken über den Kiewer Hügeln. Ich stehe ein paar Schritte von der alten Zehntkirche entfernt. Sie wurde 1240 zerstört, als der Mongolenherrscher Batu Khan die Stadt stürmte. Damals versteckten sich die Menschen in der Kirche, in der Hoffnung, die geweihten Steinmauern würden sie schützen.

Die Ukraine ist heute ein säkulares Land, in dem Kirche und Staat getrennt sind. Doch die Rolle der Religion, insbesondere des Christentums, sollte nicht unterschätzt werden. Umfragen zufolge haben 44 Prozent der Ukrainer großes Vertrauen in die Kirche. Nach einem Jahr Krieg hat dieses Vertrauen allerdings abgenommen. Wir vertrauen jetzt offenbar mehr auf unsere Armee als auf Gott.

Der Klang der Glocken trägt weit in die kalte Luft. Diverse Menschen versammeln sich zum Gebet: ältere Frauen, ein Paar mit einem kleinen Kind und eine blonde Frau auf einem Fahrrad. Ein idyllisches Bild, wenn man nicht wüsste, dass dieser winzige Tempel, den ukrainische Journalisten aufgrund seiner Größe und schlechten Lage als „Kiosk“ bezeichnen, bald abgerissen werden soll. Grund dafür ist ein Gerichtsbeschluss. Die Kirche ist Teil eines Klosters, das wiederum zur Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOKMP) gehört, die Moskau gegenüber loyal geblieben ist und de facto der Russischen Orthodoxen Kirche untersteht. An der Spitze der Gemeinde in Kiew steht Bischof Gideon, dem im Dezember die ukrainische Staatsbürgerschaft entzogen wurde, weil er auch einen russischen Pass besaß. In der Ukraine ist die doppelte Staatsbürgerschaft illegal.

Schwarz gekleidete Nonnen streiten sich darüber, wer das grüne Tuch unter der Bank vergessen hat. In ein paar Minuten wird die älteste Nonne damit die Ikonen abwischen. Die Priester werden Gebete für Einheit und für die Soldaten in Gefangenschaft sprechen – auf Russisch. Es fühlt sich nicht richtig an; als ob hier Gott belogen würde.

Im August hat das Oberhaupt der UOKMP, Metropolit Onufrij, gefangene russische Soldaten empfangen und sie gesegnet. Dem ukrainischen Militär schenkt er nicht die gleiche Aufmerksamkeit. Die ukrainischen Behörden beschuldigten einen weiteren Priester der UOKMP, mit Russland zu kollaborieren und es zu unterstützen, und schob ihn in Richtung Moskau ab. Das dürfte zumindest die 101 Ukrainer gefreut haben, die im Rahmen dieses Gefangenenaustauschs nach Hause zurückkehren konnten.

„Vielleicht sind wir Atheisten, aber wir sind Atheisten des Kiewer Patriarchats,“ scherzen einige meiner Freunde. Man ist nicht religiös, kann durch die Kirche aber die politische Einstellung ausdrücken. Im Jahr 2019 gründeten pro-ukrainische orthodoxe Priester die unabhängige Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU). Diese wurde vom Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel, der in Istanbul ansässigen „hohen Autorität“ der orthodoxen Ostkirche, anerkannt. Der Schritt der Ukraine kam eigentlich nicht überraschend. In gewisser Weise wurde damit historisches Unrecht korrigiert: Im Jahr 1686 war der Kiewer Sitz vorübergehend an die russische Kirche übergeben worden. Nun ist dieser „vorübergehende“ Zustand zu Ende. Seitdem stellt sich die Frage der Religionswahl für viele gläubige Menschen in der Ukraine nicht mehr. Sie wollen (und müssen) den Besuch einer pro-moskauischen Kirche nicht mehr mit der Begründung rechtfertigen, diese sei „legitimer“ als ihr ukrainisches Pendant.

Nur wenige Gehminuten vom „Kiosk“ entfernt liegt das ukrainisch-orthodoxe Kloster St. Michael mit seinen goldenen Kuppeln. Ich habe noch Zeit, dorthin zu gehen. Ich höre mir mit Dutzenden anderen Menschen die Sonntagspredigt des Priesters an. Vor mir steht ein junger Mann in der Uniform der ukrainischen Armee. An den Wänden hängen Porträts derjenigen, die im Krieg gefallen sind, angefangen mit den sogenannten Himmlischen Hundert während der Maidan-Revolution im Jahr 2014.

Manchmal hängt die Entscheidung, wo man betet, nicht ausschließlich von Gott ab.

Olha Perechrest ist Redakteurin bei The Ukrainians. Sie hat einen Bachelor-Abschluss in Religionswissenschaften.

Zahl der Woche: 18 Prozent

Für das Kriegsjahr 2022 erwartete die Stadt Mariupol ein Haushaltswachstum von 18 Prozent. Schon vor dem Krieg war die Hafenstadt eine der reichsten ukrainischen Gemeinden; die von der starken lokalen Industrie gezahlten Steuern trugen zu einer florierenden Wirtschaft bei.

Dieses Geld wurde für den Bau eines neuen Parks und eines Verkehrszentrums sowie für die Unterstützung von Festivals für klassische Musik, Literatur und moderne Kunst verwendet.

Dank der blühenden Kunstszene wurde Mariupol 2021 ukrainische Kulturhauptstadt. Köstliche Meeresfrüchte aus dem Asowschen Meer und Spezialitäten, die von den rund 20.000 ethnischen Griechen zubereitet werden, machten Mariupol darüber hinaus zu einer Destination für Feinschmecker.

Hanna Prokopenko war Radio-Korrespondentin für den Sender Hromadske in Mariupol. Aktuell führt sie diese Arbeit aus den nicht besetzten Teilen der Ukraine fort.

Oligarchen-Dämmerung

Der Krieg hat das Machtgefüge der Ukraine verändert und der wohlhabenden und politisch gut vernetzten Elite des Landes einen schweren Schlag versetzt: „Heute haben [die Oligarchen] keinen Einfluss mehr auf die Politik, die Wirtschaft oder die Medien,“ erklärte der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Oleksyj Danilow, kürzlich in einem Interview.

Ende 2021 machte Präsident Wolodymyr Selenskyj den bisher umgangssprachlichen Begriff „Oligarch“ offiziell, indem er ein sogenanntes „Anti-Oligarchen-Gesetz“ unterzeichnete. In diesem heißt es, diese Bezeichnung beziehe sich auf eine wohlhabende Person mit einem Nettovermögen von über 80 Millionen Dollar, die sowohl Medien als auch Politik besitzt oder beeinflusst. Die meisten Beobachter gingen davon aus, dass die tatsächliche Beschneidung der Macht der Oligarchen Jahre dauern würde. Faktisch vollzog sich ihr Niedergang aber in nur wenigen Tagen.

Kurz nachdem Russland am 24. Februar 2022 mit der Bombardierung der Ukraine begonnen hatte, wurden die Fernsehsender, von denen sich einige im Besitz von Oligarchen befinden, zu einem kontinuierlich sendenden, staatlich betriebenen Nachrichtenprogramm zusammengelegt, das auch heute noch ausstrahlt. Am selben Tag verhängte der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat das Kriegsrecht, und der Präsident wurde zum alleinigen Machthaber des Landes.

Viele Oligarchen verloren (und verlieren) durch die russischen Angriffe und die Machtkonsolidierung der Regierung ihren Reichtum und ihr Vermögen.

Zwei Oligarchen, Ihor Kolomojskyj und Kostjantyn Schewaho, denen sowohl in der Ukraine als auch im Ausland diverse Rechtsstreitigkeiten drohen, wurden im November vergangenen Jahres von den Behörden um einen Teil ihres Vermögens gebracht. Dazu gehörten die Energieunternehmen Ukrnafta und Ukrtatnafta sowie der Fahrzeughersteller AutoKraz. Zuvor war Kolomojskyjs Ölraffinerie Krementschuk im Mai von russischen Raketen zerstört worden. Zwei Monate später entzog Präsident Selenskyj Kolomojskyj die ukrainische Staatsbürgerschaft.

Der Oligarch Rinat Achmetow hat den größten Teil seines Vorkriegsvermögens von 7,6 Milliarden Dollar verloren, nachdem Russland seine Heimat im Donbas, wo sich die meisten seiner Vermögenswerte befinden, plünderte. Dazu gehören auch die Stahlwerke in Mariupol, die mit einer Jahresproduktion von 8,6 Millionen Tonnen 90 Prozent der Stahlherstellung seiner Holdinggesellschaft ausmachten. Im Juni musste Achmetow darüber hinaus sein Medienunternehmen, das größte des Landes, schließen.

Laut Forbes Ukraine haben die 20 reichsten Menschen in der Ukraine im Jahr 2022 rund 20 Milliarden Dollar verloren. Es sei aber noch zu früh, um Schlussfolgerungen darüber zu ziehen, was dies langfristig bedeutet, warnt Oleksandr Lemenow, Mitbegründer der NGO StateWatch: „Der Krieg hat bisher nur die finanziellen Interessen einiger Oligarchen getroffen, mehr nicht.“ Wichtig seien nun weitere Schritte: „Die Oligarchie wird erst durch eine stabile Demokratie, eine starke Mittelschicht und stabile politische Institutionen wirklich ‚getötet‘.“

Oleksiy Sorokin ist Mitgründer und leitender Redakteur bei Kyiv Independent.

Anstecker der Hoffnung

In Gold gefasste Glasscherben – die Bilder dieser Anstecknadeln gingen Mitte Februar viral, als eine ukrainische Delegation diese einzigartigen Accessoires auf der Konferenz Ukraine out of Blackout in Paris präsentierte. Das Glas stammt aus den Fenstern des Museums der westlichen und orientalischen Kunst in Kiew. Diese waren durch eine Explosion zerstört worden, als russische Truppen im vergangenen Oktober das Stadtzentrum Kiews mit Raketen beschossen.

Die vom Museum angefertigten Anstecknadeln wurden selbst zu Kunstwerken und zu einem Symbol für das Leid der Ukraine und ihr Ringen um Aufmerksamkeit in der Welt.

Eine dieser Anstecknadeln wurde Audrey Azoulay, der Generaldirektorin der UNESCO, überreicht. Angesichts des Versuchs Russlands, das ukrainische Erbe und die ukrainische Kultur auszulöschen, sei es für die Weltgemeinschaft von größter Bedeutung, präventiv zu handeln, um die wertvollsten Kunstgüter der Ukraine zu retten. Das Land insgesamt sollte geschützt werden; und mit ihm seine Kultur.

Die Wände des Museums der westlichen und orientalischen Kunst, das normalerweise die größte Sammlung weltlicher Kunst in der Ukraine beherbergt, sind jetzt leer. Im Gegensatz zu den hunderten geplünderten und bombardierten Einrichtungen in anderen ukrainischen Regionen konnte das Museum seine Kunstwerke allerdings an sichere Orte auslagern.

Xenija Chartschenko ist Mitglied von PEN Ukraine. Sie arbeitet im Programm „Documenting Ukraine“ am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

Beschleunigte Entrussifizierung

In Saporischschja, wo ich geboren und aufgewachsen bin, gab es ein veritables „Lenin-Reservat“: Die Lenin-Allee endete am Lenin-Platz, wo das Lenin-Denkmal stand, dessen Arm auf den Binnenhafen und das Wasserkraftwerk zeigte, die natürlich beide nach Lenin benannt waren. All das fühlte sich logisch und natürlich an: Saporischschja erhielt seinen modernen Anstrich in den ersten Jahren der UdSSR. Dementsprechend wurde ausgiebig nach Wladimir Iljitsch benannt.

Mit dem Beginn der „Entkommunisierung“ der Ukraine im Jahr 2015 verschwanden die Hinweise auf Lenin nach und nach. Der wohl letzte befand sich in der Kunstgalerie „Lenin“ in der Nähe des besagten „Lenin-Reservats“. In der Galerie wurde Lenins Präsenz in der Stadt aufs Korn genommen. Sie hörte im Jahr 2020 auf zu existieren, als ihr Gründer starb. Somit ist in Saporischschja nun fast kein Lenin-Bezug mehr zu finden.

Vor einigen Wochen wurde in Kiew ein Denkmal für General Nikolai Watutin, einen in Russland geborenen Kommandeur der Roten Armee, der die Stadt von den Nazis befreite, abgerissen. Vor einem Jahr hatten sich noch viele Menschen gegen die Entfernung des Denkmals ausgesprochen; jetzt gab es fast keine Gegner mehr. Selbst in Odesa, das lange als eher „russlandfreundlich“ galt, wurde vor kurzem ein Denkmal für Zarin Katharina die Große abgerissen. Noch vor einem Jahr wäre das unvorstellbar gewesen.

Die russische Invasion hat die Einstellung gegenüber allem Russischen in der Ukraine radikal verändert. Denkmäler für russische Persönlichkeiten verschwinden, Straßen werden umbenannt, oft in ihre früheren Namen. Es zeigt sich, wie stark das Russische Zarenreich und später die UdSSR die russische Kultur in der Ukraine verankert hatten.

Inzwischen geben die Ukrainer, von denen die meisten zweisprachig sind, die russische Sprache, Musik, Literatur und das russische Kino auf. Putins Wunsch, die ukrainische Geschichte umzuschreiben und das Land als Teil Russlands darzustellen, hat genau das Gegenteil bewirkt. Diese Entwicklung lässt sich nicht aufhalten, selbst wenn der Krieg schon morgen zu Ende ginge.

Ich lebe aktuell in Kiew, nicht weit von der Metrostation Minska entfernt, die nach der belarussischen Hauptstadt benannt ist. Bald wird auch sie umbenannt und wahrscheinlich auf Warschau umgetauft. Diese Station liegt an der Ausfallstraße in Richtung Belarus, von der aus im Februar vergangenen Jahres russische Panzer auf Kiew zurollten. Es waren letztendlich diese Invasoren, die alles zerschlagen haben, was in der Ukraine noch russisch war.

Juliana Skibitska ist Redakteurin im Ressort Gesellschaft bei Babel.ua.

Danke, dass Sie die 20. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Wir nähern uns einem Frühling, der für die Zukunft der Ukraine entscheidend sein könnte. Viele russische Flugzeuge fliegen in der Nähe unserer Grenzen, viele Besatzungstruppen versuchen weiter vorzurücken, und die neuen Waffen aus dem Westen kommen zu langsam hier an.

In den Chat-Nachrichten meiner ukrainischen Freunde (sei es aus dem militärischen oder zivilen Bereich) gibt es aber noch ein anderes wichtiges Thema: Das Wetter, und insbesondere der Himmel, sei in diesen Tagen so schön. Nach Wochen voller grauer Wolken können wir endlich wieder einmal viel Sonne sehen.

Ich hoffe, dass wir trotz aller Probleme, wie groß oder klein sie auch sein mögen, auf die kleinen Details und die kleinen Freuden achten, die doch so viel bedeuten können.

Bis nächste Woche!

Anton Semischenko

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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