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Deutsches Historisches Museum: Richtig leben, besser glauben

Wer schützt das Paradies vor Betrügern? Thomas Lackmann über die große Calvinismus-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin.

Gottes Auge, umrahmt von bunten Strahlen, wacht im Zentrum der emaillierten Ziffernscheibe, die auf einer Messingplatte eingelassen ist. Das Geldzählgerät für den Kanton Bern, gebaut um 1840, steckt in einen Nussbaumkasten. Auf vier Skalen können Summen zwischen 20 und 200 000 addiert werden. Unter dem Zeichen der Vorsehung proklamiert ein Glasnost-Versprechen allerhöchstes Controlling: „Ich wache über die Interessen des Gemeinwohls“, lautet die Verheißung. „Ich gebe allen Rechenschaft, die dafür Verantwortung tragen. Und ich leiste die sicherste Bürgschaft gegen Irrtum und Kritik.“

In diesem Verbuchungsmaschinchen manifestiert sich republikanisches Bewusstsein als reformierte Weltanschauung: Zur Überwachung der Zahlungsmoral repräsentiert der allwissende Schöpfer die politische Öffentlichkeit. Das Evangelium sei keine Zungenlehre, sondern eine Lebenslehre, hatte der Reformator Johannes Calvin (1509 – 1564) betont, sie müsse „in unsere Lebensführung eindringen, ja, sie muß sich in uns hineinbilden!“ Wer in einem Gemeinwesen krumme Geschäfte macht, unterliegt nicht nur Staatsgesetzen, sondern der Kirchenzucht.

Diese bekam etwa Hans Martens zu spüren. Der Gewürzhändler in Amsterdam gerät in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Diakon der niederdeutsch-reformierten Gemeinde unter den Druck der Glaubensgenossen – weil er sein Geschäftsmonopol ausnutzt. Auf dem Porträt, das den Bärtigen im Jahr vor seinem Tod mit seinem Sohn zeigt, trägt er schwarz, einen Pelz, Halskrause.

Gemälde ernster schwarzgekleideter Männer dominieren die Ausstellung „Calivinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa“, für die sich das Deutsche Historische Museum (DHM) mit der Johannes-a-Lasco-Bibliothek in Emden zusammengetan hat. Es geht dabei weniger um den Jubilar – der vor 500 Jahren als Sohn einer Schifferfamilie im französischen Noyon geboren wurde, zum Studium nach Paris ging, in Orléans und Bourges juristische und humanistische Studien betrieb, bis die Glaubensunruhen ihn 1535 nach Genf vertrieben.

Jann Schmidt, Kuratoriumsvorsitzender der Emder Bibliothek (Calvin hatte den frommen Ostfriesen seinen Genfer Katechismus gewidmet) und Kirchenpräsident der deutschen Reformierten, möchte vor allem Vorurteile abbauen. Zum Beispiel will er der von Max Weber entwickelten These entgegentreten, protestantische Ethik befördere den Raubtierkapitalismus. 75 Millionen reformierte Gläubige gibt es weltweit; zwei Millionen in Deutschland, davon ein Fünftel in zwei reformierten Landeskirchen, der Rest als „Unierte“ institutionell zusammengesperrt mit den Lutheranern. Wer versteht die Unterschiede?

Die Ausstellungskuratoren Sabine Witt und Ansgar Reiß möchten hierzulande, wo das Luthertum bekannter ist, über eine Bewegung informieren, die selbst Konfession geworden ist, da sie – etwa im Verhältnis von Kirche und Staat – neue Strukturen entwickelte. Aus der apologetisch gefärbten Unternehmung ist immerhin eine üppige Ausstellung (samt prächtigem Katalog) geworden. Ihre Fülle illustriert weniger calvinistische Askese als die feierliche Düsternis vergangener Zeiten, in denen Fragen nach Macht und nach Wahrheit schwer zu trennen waren.

Eingangs wird der Jurist Calvin samt Genfer Republik mit seinem Credo skizziert; es folgen Räume zur politisch-dynastischen Dimension des Themas, zur Disziplin reformierter Bürgerschaften, über Bildersturm, Wort-Gottes-Verehrung und reformierte Gesellschafts-Gestaltung bis heute.

Am lustigsten prägen sich die comicähnlichen Agitprop-Gemälde ein. Da stellen Reformatoren einen Leuchter auf die Bibel, und papistische Funktionäre versuchen, das Licht auszupusten. Gottes Hand hält aus der Kirchenkuppel eine Waage herab, die Papst-Fraktion packt Liturgie-Geräte hinein, die Evangelen-Fraktion die Bibel – und gewinnt. Das Schiff der Kirche durchpflügt den Ozean, mit Moses, König David und dem Gekreuzigten an Bord, während der häretische Bogenschütze Calvin aus einem Minimonsterboot den Windjammer-Bug attackiert. Papst, Luther und Calvin diskutieren am Kneipentisch. An einem Sakramentshäuschen sind Abendmahlslehren abgebildet – die katholische („das ist mein Leib“), die lutherische („das wird mein Leib“), die reformierte („das bedeutet mein Leib“). Nur: Wie erklärt man Kindern der Postmoderne, die gelernt haben, allen Zeichen zu misstrauen, den Streit um die Zeichen einer realen Gegenwart Gottes?

Statt einer Aufbereitung ideologischer Widersprüche, die der „Ismus“-Titel erwarten lässt, bietet das DHM eine opulente Zeitreise. Dass Calvins Systematik den Kosmos radikal entsakramentalisiert, dass sie neuzeitlich-demokratischer funktioniert als die halbherzige lutherische Reform: Wie passt das zum Freiheitsverlust, den seine Lehre von „doppelter Prädestination“ – vorbestimmt zur Seligkeit oder zur Verdammnis – produziert?

Auch dass die Spiritualisierung und Entinstitutionalisierung des Christentums zur Individualisierung führt, dass mittlerweile hunderte von Freikirchen und Sekten existieren, deren Genesis calvinistische Ursprünge aufweist, hat einen aktuellen Bezug. Der wird jedoch den Katalog-Texten überlassen, welche auch Max Webers Kapitalismusthesen entgiften sollen. Erhellend dagegen die Präsentation des politischen Calvinismus, der Europa erfasst. Wer als Ungar oder Niederländer das katholische Habsburg hasst, wählt den reformierten Widerstand. „Paradies“ heißt im allerkatholischsten Frankreich die Hugenottenkirche von Lyon. Das Gemälde von 1564 zeigt den schwarzgekleideten Prediger auf der Kanzel. Auf den Bänken sitzen Männer, Frauen, Kinder. Manche reden miteinander. Natürlich schauen sie ernst.

Der Spott des lutherischen Pastorensohns Nietzsche, warum Erlöste nicht erlöst aussehen, die ewige Frage nach der sichtbaren Menschwerdung des Göttlichen im Hier und Jetzt, wird auch von 24 reformierten Fotoporträts nicht beantwortet, aufgenommen 2006 in Rotterdam und Urk: 12 freundliche junge Damen, bunter Pulli, Rock, lange Haare 12 Kirchenälteste, streng oder knorrig, schwarzer Anzug, schwarzer Schlips.

Wie konstatiert ein Kollektiv, wer im Paradies dabei sein darf? Die Ausstellung zeigt auch Zulassungsmarken zum Abendmahl, wie sie den untadeligen Gläubigen noch im 20. Jahrhundert nach der Inspektion durch die Ältesten überreicht wurden. Das war einmal. Aber wer schützt heute unser Paradies vor den Betrügern?

Bis 19. Juli im DHM Berlin, Unter den Linden 2, tägl. 10 - 18 Uhr. Der Katalog kostet 25 € (Hardcover 48 €)

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