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Wagner in Schwarz.

© picture alliance / dpa

Kultur: Die Kunst der Stunde

Warum das Wagner-Jahr in Hollywood beginnt – und was uns Spielberg und Tarantino voraus haben.

Das Wagner-Jubeljahr 2013 beginnt am morgigen Sonntag in Berlin – mit der „Götterdämmerung“. Mit dem Ende vom „Ring“. Trotz vieler anderer Dämmerungen muss sich die von Daniel Barenboim dirigierte Aufführung des Regisseurs Guy Cassiers dabei fast unausweichlich messen lassen: an einem erstaunlich überdauernden Vorbild.

Patrice Chéreaus so legendärer Bayreuther „Ring des Nibelungen“ von 1976-1980 gilt noch immer als Jahrhundert-Inszenierung, obwohl sie in der digitalen Zeitbeschleunigung auch schon fast ein Jahrhundert entfernt erscheint. Das Fortleben hat nicht zuletzt mit ihrem – durch die Fernsehaufzeichnung, DVDs und Youtube mit überlieferten – Finale zu tun. Jener „Ring“ spielte virtuos zwischen Mythos und Industriezeitalter, zwischen germanischer Vorzeit, Wagners eigener Epoche und dem Jahrhundert der Zuschauer. Der Streit um den Nibelungenschatz war auch, ohne dass eine Note oder ein Wort des Librettos verändert wurde, ein Ausdruck von Kapitalismuskrise, und es dämmerste die Ära der alten Industrien.

So versammelten sich zum Schlussbild die götterlosen Menschen, eine neue bürgerliche Mehrheit, vor dem brennenden Horizont einer Fabriklandschaft, beklommen, wie stumm fragend – angesichts einer ungewissen Zukunft. Das Bild erinnert nicht nur an Richard Oelzes berühmtes Gemälde „Die Erwartung“ (von 1935), in dem sich Männer und Frauen unter einem rätselhaft drohenden, tief bewölkten leeren Himmel zusammendrängen. Chéreaus finales Wagner-Tableau ruft heute einmal mehr alle aktuellen globalen Krisen-Assoziationen wach, stärker sogar als vor 40 Jahren. Es ist ein Inbild auch unserer Zeit, unseres Zeitgefühls und -geists geworden.

Wie das geht? Patrice Chéreau, der das bei der Arbeit am „Ring“ natürlich so nicht exakt voraussehen konnte, er hat sein künstlerisches Ziel einmal wunderbar genau beschrieben: Mit Wagners alter Geschichte habe er ein „imaginäres Bild der Gegenwart“ zeigen wollen. Was mit der inneren Entfaltung eines Stoffs etwas ganz Anderes und viel Raffinierteres ist als die bei heutigen Klassiker-Inszenierungen rein äußerliche „Aktualisierung“ (Wotan mit Laptop, Schillers Ferdinand als DJ...).

Ein Inbild freilich, wenn es eines von Bedeutung ist, meint kein Bild der Innerlichkeit. Es weist hinaus, in die Gegenwart, in die Gesellschaft, darum hat es: Präsenz. Und wird zum Welt-Bild.

Vielleicht ist es nur ein Zufall. Oder eben doch bezeichnend. Das deutsche Kinostück der Stunde handelt von der Entführung und jahrelangen Eingeschlossenheit des Mädchens Natascha Kampusch. Eine Reise nach innen, in die Privathölle, die draußen in der Realität längst berichtet und erzählt wurde, der dieser illustrativ nacherzählende, nachspekulierende Film nichts Filmauthentisches hinzufügt. Die Vorstellung vom Kerker bleibt Kulisse, wird nicht zum Bild, schon gar nicht zum Inbild.

Die Macht der Künste ist ja doch: so etwas wie Inbilder zu schaffen. Das heißt nicht unbedingt Ikonen – der Begriff klingt zu sehr nach der Geschichte früher (religiöser) Malerei oder nach neuerer Umgangssprache (Madonna, eine Popikone). Inbilder statt nur Abbilder, das meint in einer Flut der Bilder einen Ausdruck der Verdichtung, vormals hätte man auch gesagt: eine Metapher. Ein Sinnbild, in dem die Vielfalt des Weltgeschehens zum Beispielhaften gerinnt. Für eine Zeit, für eine Gesellschaft – über den Zufall und Einzelfall hinaus. Verdichtung und Ausweitung zugleich.

Immer war das eine Stärke der Literatur, von Homer bis Houellebecq, von Ovid bis Paul Auster. Es war auch eine Stärke des Theaters, wenn es im Sinne Schillers (und Brechts) die Szene noch zum gesellschaftlichen Tribunal machte. Der Trick war dabei oft genug, dass ein Stück, ob von Sophokles oder Shakespeare, in ferner Vergangenheit zu spielen schien, aber die eigene Zeit und Zeitgenossenschaft verhandelte. Traf. Auch Brecht erzählte vom Konflikt zwischen Galileo Galilei und der katholischen Kirche – aber der vorscheinende Subtext war direkt nach 1945 der vom Staat verführbare Physiker im neuen, versengenden Atombombenlicht der Aufklärung.

Ein deutsches Theaterstück, dem solch ein Doppelspiel gelang und das darum auch weltweit gespielt und brillant verfilmt wurde, war Peter Weiss’ „Marat/Sade“-Drama, uraufgeführt 1964 im Berliner Schiller-Theater, dort, wo jetzt die Staatsoper spielt. Indem Weiss ein dramatisches Aufeinandertreffen des Marquis de Sade mit seinem Zeitgenossen, dem 1793 von in der Badewanne ermordeten Sozialrevolutionär Jean Paul Marat fingierte, zielte er kurz vor 1968 in die virulente Wirklichkeit. Der gesellschaftsverachtende Hedonist und Individualist de Sade prallt auf den vom Kollektiv entzündeten Frühsozialisten Marat, und dazu skandiert der Chor der Insassen eines rebellischen Irrenhauses: „Keine Revolution ohne allgemeine Kopulation.“

Chöre, sie gibt es auch jetzt wieder vermehrt im deutschen Theater. Arbeitslose, Obdachlose, Wutbürger. Sie schreien lautstark. Aber kaum einer hört sie außerhalb des Theaters. Kein Kopf, nur Kehlkopf. Abziehbilder.

Ein Sinnbild sucht und signalisiert ganz klar der diesjährige deutsche Beitrag auf der Berlinale. Der Film heißt „Gold“, erzählt von einer Schar deutscher Auswanderer, die im 19. Jahrhundert nach Glück und Gold auf einem einsamen Treck durch die Weiten Kanadas streben. Und scheitern. Doch das Scheitern wirkt wie von Anfang an beschlossen, der schiere eintönige Weg ist das Ziel des Films – wieder kein eigenes Bild, nicht von der Goldgier oder Glückssehnsucht, die auf einer anderen Erzähl- und Erfahrungsebene auch die Gegenwart berühren würde.

Ein Narrativ für gestern, heute oder gar morgen: Anders als die rein illustrativ nacherzählenden diversen Baader-Meinhof-Ensslin-Vesper-Dramen hat das im deutschsprachigen Film zuletzt nur Michael Hanekes „Das weiße Band“ geschafft. Ein archaisches Dorfbürger- und kinderdrama, in dem sich über das Abbild hinaus auch der Vorschein und das Inbild zeigt von einem viel größeren geschichtlichen Terror, von Verfolgung und Krieg nicht nur in der Familie und Kleingemeinschaft. Das ist schon wieder vier Jahre her.

Wie anders es gehen kann, zeigt Hollywood. Wobei das im wesentlichen nicht eine Frage des größeren Geldes, des äußeren Gepränges ist. Sondern der poetischen, dramaturgischen Intelligenz. Steven Spielberg erzählt in „Lincoln“ eben nicht nur eine Historie aus dem 19. Jahrhundert, sondern schafft im Spiegelreflex ein Sinnbild auch des heutigen politischen Bürgerkriegs in den USA. Dagegen hat es in Deutschland eine so schillernde, zwischen Verfolgung, Verfemung, Verrat, Charismatik und Schwäche changierende Figur wie Willy Brandt gerade mal zur kunst- und brisanzlosen TV-Dokufiction geschafft.

Oder „Django Unchained“. Auf den vielen Bedeutungsebenen, mit denen Quentin Tarantino, der Großmeister, auch diesmal wieder jongliert, scheint die kurioseste das Spiel mit den Wagner-Motiven zu sein. Doch plötzlich werden ein schwarzer Siegfried und eine schwarze Brünnhilde (alias Broomhilda) zum neuen Bild der Freiheit. Wo im Urbild die Erlösung misslang, findet Tarantino die Lösung. Und die Kunst das Leben. So hat, nebenbei, das Wagner-Jahr schon in Hollywood begonnen. Peter von Becker

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