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Peter Handke: Gebt mir ein Menschengesicht

Abschied von der öffentlichen Streitperson: Peter Handkes große Erzählung „Eine morawische Nacht“ ist ein grandioses Buch, in dem der Autor sein nacktes Gesicht präsentiert.

In einem überfüllten Zug von Wien südwärts Richtung Kärnten, eingezwängt zwischen lauter jungen Menschen von erschreckender Ähnlichkeit, die Gesichter blass und in sich gekehrt mit zugestöpselten Ohren, überkommt den Reisenden eine unsagbare Angst. Tagelang ist er durch menschenleere Gegenden gewandert, nun wünscht er sich nichts sehnlicher als ein Gegenüber. Doch keiner nimmt den anderen wahr, „niemand hatte Augen für niemanden“. Da fällt sein Blick auf eine Frau, äußerlich hebt sie sich kaum von den anderen Jugendlichen ab. Doch sie liest, ist ganz entrückt, ohne sich von der Umgebung abzukapseln: ihr Gesicht ist offen, ihr Blick hebt und senkt sich – und trifft schließlich den Reisenden. Ein Gespräch kommt zustande. Sie hat ihn erkannt! Das junge Mädchen kennt seine Bücher! Welch eine Freude, aber sie dauert nicht lang. Das zarte Geschöpf kommt ins Plaudern. Abrupt wendet sich der Reisende ab: „Alleinsein – mit dem Nachbild des Wesens.“

Peter Handkes neue, in jedem Sinne große Erzählung „Die morawische Nacht“ erzählt vom Wunsch, wahrgenommen zu werden. Es ist ein diskretes und intimes Buch, fast rührend in seiner Offenheit. Der Autor präsentiert sein nacktes Gesicht. Er versucht, sich zurückzuverwandeln – von einer öffentlichen Person, über die jeder Bescheid zu wissen meint, in einen Menschen, der so „gesichtsbedürftig“ ist wie jeder andere, vielleicht noch mehr. Er hat als sprachgenauer Menschenkundler angefangen, hat sich dann immer mehr den Dingen und der Natur zugewandt, wurde wegen seiner Parteinahme für Serbien zur persona non grata und scheint nun geradezu von einer Begierde nach menschlicher Zuwendung ergriffen.

Doch wer von anderen Menschen wahrgenommen werden will, muss auch ihre Anwesenheit ertragen. „Die morawische Nacht“ ist der Versuch, dieses Problem zu lösen, eine imaginäre Übung im Zusammensein. Für einen Schriftsteller, der das Alleinsein feierte wie kaum ein zweiter, ist das eine erstaunliche Wendung. „Die morawische Nacht“ ist ein Traumspiel, in dem sich der Autor in eine literarische Figur verwandelt und sich ein paar Mitspieler ersinnt, die ihm bei seinem Anliegen helfen: mit anderen auszukommen, weil man nicht umhin kann, sie zu brauchen.

Nur eine einzige Nacht umfasst die Erzählzeit, eine Neumondnacht kurz vor Ostern, die ersten Sommersternbilder stehen schon am Himmel. Die Hauptfigur hat ein paar Freunde, ferne Nachbarn, Weggefährten, nicht mehr als sechs oder sieben Personen, auf ihr Hausboot eingeladen, das auf der Morawa, einem Nebenfluss der Donau, leicht vertäut an Bäumen liegt – jederzeit bereit zur „Flucht, oder auch zum Mir-nichts-dir-nichts-Weiterfahren oder Wenden“.

Zauberhaft ist die Sicherheit, mit der Handke einen Ton trifft, der zugleich dringlich und beiläufig wirkt. Die Hauptfigur heißt nur der „Ex-Autor“. Er ist in Gefahr, was ihn aber bedroht, erschließt sich erst mit der Zeit: Es ist er „höchstselbst“, weil er immer wieder „das Bewusstsein von den anderen“ verliert.

Die Last des Erzählens wird auf mehreren Schultern verteilt. An die Stelle des einsamen Schreibens rückt die Suggestion einer mündlichen Erzählgemeinschaft. Zentrale Figur des Erlebens ist der „Ex-Autor“ und seine Rundreise durch Europa. Was er aber erzählt, in jener Nacht auf der Morawa, wird indirekt wiedergegeben: durch ein in der Gemeinschaft der Zuhörer aufgehendes „Ich“, das den früheren Autor seit der Kindheit kennt und dem Leser erzählt, was in jener Nacht passiert ist – von der Platzierung der Tische (jeder hat einen eigenen, möglichst weit von den anderen entfernt), über die wiedergegebenen Reise-Erlebnisse, bis hin zu jener seltsamen Choreografie, die das Zusammenspiel des Gastgebers mit der einzigen anwesenden Frau bildet.

Sie ist die große Rätselgestalt, ein Wunschbild der Fürsorge, schön und gütig. Sie bedient die Männer, verschwindet immer wieder in der Bordküche und meldet sich bei Gelegenheit etwas entschiedener zu Wort als die anderen. Es wäre ein leichtes, dem Autor ein antiquiertes Frauenbild oder an anderer Stelle gar Misogynie vorzuwerfen. Aber das ginge an der Sache vorbei. Denn das Problem ist grundsätzlicher: Wie kann man überhaupt mit anderen Menschen auskommen, wie ihre Nähe ertragen, ihre Gegenwart? Dieser Frage ist Peter Handke mit aller Aufrichtigkeit, aber auch mit ungewöhnlicher Selbstironie auf der Spur.

So sind sämtliche Stationen der Reise, die den ehemaligen Autor quer durch Mitteleuropa geführt hat, meist allein, manchmal in Begleitung einer der anwesenden Zuhörer, Prüfungen einer sich zaghaft ausbildenden Menschenfreundlichkeit. Ob im Bus mit serbischen Auswanderern auf der Fahrt nach Belgrad, ob auf einem Kongress über die „Akustik der Stille und die Akustik des Schalls“ in Kastilien, ob auf einer Adria-Insel, einem Maultrommelspieler-Treffen am Rande Wiens, in Kärnten oder auf dem Weg in den Harz: Immer wieder begegnet er Menschen, die seiner Misanthropie Nahrung geben. Doch er hält sich in Zaum.

Wann immer Hasstiraden und Wutanfälle Raum gewinnen, werden sie anderen Figuren in den Mund gelegt. Dabei verquickt Handke realistische, satirische, märchenhafte und biographische Elemente auf eigentümliche Art. Da liest mal eine Hexe seinem Alter Ego die Leviten, mal eine Gemse, die sich zu dem in eine Karst-Doline gestürzten Helden auf dem Hintern hinabgleiten lässt und „Klartext“ spricht: „Genug im Abseits. Schluss mit dem Alleingehen. Im-Stich-Lasser! (...) All deine falschen Ekstasen. Da siehst du wieder einmal, wohin sie führen: in ein Schneeloch, in die Schneeblindheit. Zurück in die Sphäre der Lebenden, der Heutigen, der Augenpaare. Ich werde dich nicht retten, ich nicht. Aber ich habe auch keine Lust, deinem poetischen Sterben in Weiß und Blau hier zuzuschauen, tagelang. Auf mit dir, du Tiefland-Trottel.“

Nicht nur mit Tieren und der verstorbenen Mutter, die sich gegen die Interpretation ihres Lebens und Sterbens als „wunschloses Unglück“ wehrt und den Sohn endgültig von aller Schuld freispricht, hält Handkes Alter Ego Zwiesprache, auch Figuren seiner Bücher tauchen auf als wären sie reale Personen: etwa Gregor Keuschnig aus „Die Stunde der wahren Empfindung“ oder Filip Kobal aus „Die Wiederholung“.

Das ist hier schlüssiger als in „Mein Jahr in der Niemandsbucht“. Die Rundreise, die auch „Rundflucht“, „Irrfahrt“ oder „Todesfahrt“ genannt wird, beschreibt zugleich eine große Sammelbewegung: als suche Handke alles zusammen, was sich zu Beschwichtigungszwecken einsetzen lässt. „Die morawische Nacht“ ist auch eine Art Poetographie, in der Leben und Werk des jüngst fünfundsechzig gewordenen Autors eins werden.

Die größte Ruhe und Sicherheit stellt sich an jenem Ort im Harz ein, wo die „Mutter dem Vater einst über den Weg gelaufen war, oder umgekehrt“. Peter Handke entwirft immer wieder flüchtige Bilder glücklicher Zweisamkeit. Doch die ständig angekündigte, dann wieder aufgeschobene Liebesgeschichte lässt sich nur in Bruchstücken erzählen. Es ist ein einziges Anlaufnehmen und Abbrechen, ein Durchspielen verschiedener Möglichkeiten am Beispiel einer Frau, die bis zum Schluss jene „fremde Frau“ des Anfangs zu sein scheint, die der „Ex-Autor“, der sich am Ende der Nacht wieder „der Autor“ nennen darf, „an sich“ zieht – und schon ist sie verschwunden.

Wie schwierig es ist, eine Schriftstellerexistenz mit nahen Menschen zu teilen, davon berichtet diese Erzählung in furiosen Bildern. „Die morawische Nacht“ ist ein grandioses Buch, das mit literarischen Mitteln von den Grenzen der Literatur erzählt, und es ist zugleich eine fulminante Antwort auf den Gesichtsverlust, den der Autor durch sein politisches Engagement erlitten hat. „Nichts ging ihm, wenn es die Zeit war, über ein Menschengesicht, keine Natur, kein Himmel, kein Buch. Und jetzt war es die Zeit. (...) Nur keinen Schnee mehr sehen, nur keine Dinge mehr. Gesichter! Ein Gesicht! Gib mir ein Menschengesicht, und so wird meine Seele gesund.“

Peter Handke: Die morawische Nacht. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 561 Seiten, 28 €.

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