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Gewinnendes Lachen: der US-amerikanische Pianist George Li.

© Simon Fowler

Zwei Pianisten, zwei Abende, zwei Säle: Noten machen erfinderisch

Der 24-jährige Amerikaner George Li spielt in der Berliner Philharmonie, der 50-jährige Fazil Say im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Ein Vergleich.

Im Sommer 2016 hat George Li für ein Social-Media-Video des Verbier Festivals die berühmte „Welche drei Dinge würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?“-Frage beantwortet. „Mein Klavier und Toilettenpapier“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Dann muss der Pianist kurz nachdenken. Er entscheidet sich für „Bücher“.

George Li ist also jemand, der es gerne ordentlich hat, selbst wenn niemand zuschaut. Und der kein Scheuklappen-Musiker sein will. Darum hat sich der 1995 in Boston geborene Sohn chinesischer Einwanderer nach dem Schulabschluss an der Harvard University beworben und sich für englische Literatur eingeschrieben. Obwohl seine Musikerkarriere da schon mächtig Fahrt aufgenommen hatte, vor allem durch den 2. Platz beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb.

Als es losging mit den Einladungen der ganz großen Orchester und Festivals, brach George Li das Studium nicht ab. Um in der Musik gut zu sein, davon ist er überzeugt, braucht er Anregungen auch aus anderen künstlerischen Ausdrucksformen – die ihm den Horizont weiten. Beim Berlin-Gastspiel des 24-Jährigen mit den Moskauer Philharmonikern ist das zu hören. George Li spielt Sergej Rachmaninows 3. Klavierkonzert, das Virtuosen-Vehikel schlechthin. Doch er begnügt sich nicht damit, dem staunenden Publikum Zirkuskunststückchen vorzuführen, in irrwitzigen Läufen, wuchtigen Akkordketten und akrobatischen Oktavparallelen über die Klaviatur zu rasen. Nein, er will diese Shownummer wirklich interpretieren, dem emotional aufgedonnerten Tastentanz Sinn ablauschen.

Li erfühlt Romantik mit aufrichtigem Gefühl

Jede Phrase, jeder einzelne melodische Bogen wird individuell modelliert, und zwar unabhängig davon, ob es in der Partitur gerade traumvergessen-sentimental zugeht oder vom Interpreten allerhöchste technische Bravour gefordert wird. Klar und präzise bleibt George Lis Anschlag im einen wie im anderen Fall, seine außergewöhnlichen Fertigkeiten setzt er uneitel ein, zum Wohl der Sache, nicht um Eindruck zu schinden.

Darum gelingen Li auch die rhapsodischen Passagen bei Rachmaninow besonders gut, jene Momente, in denen der Pianist die Aufführungssituation zu vergessen scheint, um eigenen Gedanken nachzuhängen. Wie improvisiert, aus dem Augenblick geboren entwickelt sich das bei dem jungen Amerikaner, scheinbar widersprüchliche Stimmungen fügen sich zum organischen Ganzen. Und weil sich George Li dem romantischen Rausch mit aufrichtigem Gefühl hingibt, hat auch der Kitsch keine Chance.

Komponist am Klavier: der türkische Pianist Fazil Say.

© Marco Borggreve

Lediglich den Kontakt zum Orchester könnte man sich intensiver vorstellen, die von Yuri Simonov geleiteten Moskauer Musikerinnen und Musiker treten am Montag in der Philharmonie doch sehr in den Hintergrund. Mit Kommunikation in alle Richtungen hat Fazil Say kein Problem. Und er würde auf die einsame Insel sicher auch kein Toilettenpapier mitnehmen, sondern Notenpapier. Sich als Komponist auszudrücken ist dem gerade 50 Jahre alt gewordenen Türken genauso wichtig wie das Klavierspiel.

Beides hat er seit frühester Jugend parallel praktiziert, beim Auftritt mit der Academy of St Martin in the Fields am Dienstag im Konzerthaus ist er in doppelter Funktion präsent. In der Live-Situation sind ihm nicht nur seine Mitspielerinnen und Mitspieler Komplizen, mit denen er ins intime Zwiegespräch kommt, sondern auch die Zuhörer. Sobald er in Mozarts A-Dur-Klavierkonzert KV 414 eine Hand frei hat, weil gerade nur die Rechte spielen muss, nutzt er die Linke, um sprechende Gesten in die Luft zu malen, die sagen: „Ist das nicht herrlich?!“

Obwohl er schon ein Vierteljahrhundert im Geschäft ist, gelingt es Fazil Say tatsächlich, in seinem Spiel die naive Freude dessen herzustellen, der die Schönheiten der mozartschen Werke zum ersten Mal entdeckt. Und tatsächlich überträgt sich dieses Glücksgefühl unmittelbar auf den Saal. Als Interpret des klassischen Repertoires will er die Zuhörer an die Hand nehmen, als Komponist möchte er ihnen ein Fremdenführer sein. Gedanklich ist Fazil Say ebenso in der traditionellen Musik seiner türkischen Heimat verwurzelt wie im Jazz, stilistisch zieht es ihn unentwegt zu Grenzüberschreitungen. Und wie wenigen Zeitgenossen gelingt es ihm dabei, aus seiner Neugier sinnliche, rhythmisch kraftvolle und darum unmittelbar ansprechende Partituren zu entwickeln.

Say zieht es unentwegt zu Grenzüberschreitungen

Das „Silk Road“-Konzert, 1994 entstanden während Says Studienzeit in Berlin – ein Jahr, bevor auf der anderen Seite des Atlantiks George Li das Licht der Welt erblickte –, beschreibt die Route der antiken Seidenstraße von Tibet über Indien und Mesopotamien bis nach Anatolien. Eine Handvoll Streichinstrumente und ein Gong reichen Fazil Say für die weite Klangreise, denn der Flügel wird hier zur multiplen Persönlichkeit: Indem er die Mechanik mit einem Metall-Lineal, Nägeln und einer dicken Pappe präpariert, kann Say gleichzeitig Klaviersolist, Perkussionist, Sitarspieler sein und schließlich sogar eine Hirtenflöte imitieren, wenn er in den Korpus greift und die Metallsaiten zart mit den Fingern zupft. Am Ende feiert das Konzerthauspublikum ihn so wie die Philharmonie-Besucher tags zuvor George Li gefeiert haben.

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