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Meinung: Das erste und das letzte Ende

Von Norberto Bobbio WO IST GOTT? Mein Leben kann ich erzählen, gestützt auf meine Erinnerungen und die Erinnerungen derer, die mir nahe standen, mit Hilfe von Dokumenten, Briefen und Tagebüchern.

Von Norberto Bobbio

WO IST GOTT?

Mein Leben kann ich erzählen, gestützt auf meine Erinnerungen und die Erinnerungen derer, die mir nahe standen, mit Hilfe von Dokumenten, Briefen und Tagebüchern. Von meinem Tod kann ich nicht mehr erzählen. Das können nur die anderen tun. Wir beeilen uns, den Verwandten eines Freundes einen Beileidsbesuch abzustatten. Sie wetteifern miteinander, um uns einen detaillierten Bericht der Momente des Übergangs zu geben, uns die letzten Worte zu wiederholen, die der Sterbende selbst vielleicht gar nicht mehr gehört hat, uns die letzte Geste zu beschreiben, deren er sich vielleicht nicht mehr bewusst war. Ich bin der einzige, der meinen Tod nicht erzählen kann. Unvorhersehbar ist mein Tod für alle, aber für mich ist er auch unsagbar.

Noch unsagbarer ist das, was danach kommt. Doch was kommt danach? Sind wir wirklich sicher, dass etwas geschehen wird, was man erzählen kann, etwas, was jemand irgendwann einmal erzählen wird? Dass die Menschen sterblich sind, ist ein Faktum. Dass der reale Tod, den wir tagtäglich in unserer Umgebung erleben müssen, und über den wir insgeheim unaufhörlich nachdenken, nicht das Ende des Lebens sein soll, sondern der Übergang in eine andere Form des Lebens, die von den einzelnen Individuen, den einzelnen Religionen, den einzelnen Philosophien jeweils ganz anders vorgestellt und definiert wird, ist kein Faktum, sondern ein Glauben. Es gibt Menschen, die daran glauben, und andere, die nicht daran glauben. Dann gibt es Menschen, die keinen Gedanken daran verschwenden, und wiederum andere, die sagen: „Wer weiß!“ Seit meiner Jugend habe ich mich denen, die nicht glauben, immer näher gefühlt.

Das wichtigste Argument für den Nicht-Glaubenden ist das Bewusstsein um die Geringfügigkeit der eigenen Person angesichts der Unermesslichkeit des Kosmos, es ist ein Akt der Demut angesichts des Geheimnisses von der Gesamtheit aller Welten, deren ungeheure, vielleicht unfassbare Größe wir erst jetzt zu begreifen beginnen. Für den Glaubenden dagegen beginnen die quälendsten Fragen mit dem Moment, in dem er die Existenz eines neuen Lebens nach dem Leben anerkennt. Ein neues, anderes Leben: welches? Da wir aufgrund unserer Erfahrungen absolut nichts darüber wissen, gibt jede Religion, jeder Prophet oder Visionär, jeder Weise, der dies Wissen zu besitzen glaubt oder vorgibt, es zu besitzen, jeder Mensch, auch der schlichteste, der Angst vor dem eigenen Tod hat oder sich mit dem Tod eines geliebten Menschen nicht abfinden will, seine eigene Antwort. Alle Antworten sind gleichermaßen glaubwürdig.

Das Leben kann nicht ohne den Tod gedacht werden. Die Menschen werden nicht zufällig die „Sterblichen“ genannt: auch die größten Zyniker, die skrupellosesten und sorglosesten Menschen, die Hochmütigsten und Gleichgültigsten nehmen wenigstens einmal in ihrem Leben den Tod ernst, und wenn nicht den der anderen, so doch den eigenen. Wird der Tod ernst genommen, bedeutet er das Ende des Lebens, das definitive Ende, ein Ende, nach dem es keinen neuen Anfang gibt. Das Leben achtet, wer den Tod achtet. Das Ende des Lebens ist gleichzeitig das erste und das letzte Ende. Auch wer ein zweites Leben nach dem Tod annimmt, schließt einen zweiten Tod aus, denn das zweite Leben ist, wenn es existiert, ewig, es ist ein Leben ohne Tod.

Mit dem Tod geht man in die Welt des Nichtseins ein, in dieselbe Welt, in der ich war, bevor ich geboren wurde. Das Nichts, das ich einmal war, wusste nichts von meiner Geburt, von meinem Zur-Welt-Kommen und von dem, was ich werden sollte; das Nichts, das ich einmal sein werde, wird nichts von dem wissen, was ich gewesen bin, nichts vom Leben und vom Tod der Menschen, die mir nahe gestanden haben und deren Gegenwart meine Tage mit Leben erfüllt hat, es wird nichts von den Ereignissen wissen, an denen ich Anteil genommen habe, indem ich jeden Tag die Zeitung gelesen, Radio gehört oder mit Freunden gesprochen habe. Alles was einen Anfang hatte, hat ein Ende. Warum soll nicht auch mein Leben eines haben?

Der Autor war der bedeutendste Nachkriegsphilosoph Italiens und ist am 9. Januar gestorben. Wir entnahmen den gekürzten Text seinem Buch „Vom Alter – De Senectute“, Wagenbach Verlag, Berlin 1997.

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