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Kennedy-Rede an der FU: Der Windhauch des Wandels

Eine neue Formel in der politischen Eiswüste des Kalten Krieges: John F. Kennedys Rede an der Freien Universität bahnte 1963 den Weg zu Willy Brandts späteren Ostverträgen.

Am 20. Januar 2011 feiert die Amerikanische Botschaft in Berlin an der Freien Universität gemeinsam mit zahlreichen Gästen den Tag der 50. Wiederkehr von John F. Kennedys Amtseinführung 1961. Die Wahl des Ortes erfolgt nicht ohne Grund. Denn an der Freien Universität hielt Kennedy am 26. Juni 1963, fünf Monate vor seinem Tod, eine Rede, deren deutschlandpolitische Wirkung enorm war.

Als John F. Kennedy am 20. Januar 1961 sein Amt als 35. Präsident der Vereinigten Staaten antrat, richteten sich die Augen der Welt erwartungsvoll auf ihn. Niemals zuvor war ein Wechsel im Weißen Haus mit so großer öffentlicher Aufmerksamkeit und Spannung registriert worden wie dieser. Der knappe Sieg am 8. November 1960 – Kennedys Vorsprung vor seinem Konkurrenten Richard Nixon betrug lediglich 0,2 Prozent, 118.574 Stimmen – bedeutete nicht nur einen Einschnitt in der Generationenfolge; Eisenhower, der scheidende Präsident, war 70 Jahre, Kennedy 43 Jahre alt. Er bedeutete auch, dass die Zeichen der Politik auf Veränderung standen.

Die Inaugurationsrede Kennedys unterstrich diesen äußeren Eindruck. Sie appellierte an die individuelle Verantwortlichkeit des einzelnen Bürgers („Frag’ nicht, was dein Land für dich tun kann, frag’, was du für dein Land tun kannst“); sie beschwor eine neue Courage in der unbefangenen Auseinandersetzung mit der politischen Realität; und sie stellte in Aussicht, dass es künftig keine Barrieren für Verträge und vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den antagonistischen Mächten des Kalten Krieges geben werde: „Lasst uns Verhandlungen nicht fürchten.“

Was änderte sich mit Kennedys Präsidentschaft jenseits solcher Ankündigungen wirklich? Eine der Antworten auf diese Frage führt zur Geschichte der Freien Universität, in den Juni 1963. In diesem Monat hielt Kennedy mehrere wegweisende Reden, die weiterentwickelten, was er in seiner Inaugurationsansprache vom Januar 1961 bereits skizziert hatte. Dazwischen lagen zweieinhalb schwierige Jahre für seine Administration: Kuba-Krise, gescheiterte Abrüstungsverhandlungen in Wien, erste amerikanische Kampfeinsätze in Vietnam, der Bau der Berliner Mauer. Gründlichen Revisionen einer Politik der harten Hand war diese neue Frostperiode des Kalten Kriegs nicht günstig. Aber Kennedy wusste, dass er zu handeln hatte, weil das Rüstungswettrennen der Großmächte zunehmend unbeherrschbarer wurde. Das geplante Atomteststopp-Abkommen und die Vorbereitung eines gemeinsamen Weltraumprogramms mit der Sowjetunion waren erste Schritte zu einer Strategie der De-Eskalation.

Am 10. Juni 1963 sprach Kennedy auf Einladung des Senators Bob Byrd und des Präsidenten Anderson an der American University in Washington. Er erklärte, dass Sicherheit, die mit Waffen geschaffen werde, auf Dauer nicht das einzige Mittel moderner Außenpolitik sein könne. Der Westen müsse daher seine Haltungen gegenüber dem Frieden, der Sowjetunion und dem Kalten Krieg grundsätzlich überprüfen. „Lasst uns unsere Einstellung überdenken“ – mit dieser Einladung forderte Kennedy explizit zur Revision der außenpolitischen Strategie auf, die das Weiße Haus bisher verfolgt hatte. Die Rede mündete in ein Statement, das sich ausdrücklich an alle Amerikaner richtete: „Denn wir können Entspannung bei gleichzeitiger Erhaltung unseres Schutzes erreichen.“ „Tauwetter ohne Preisgabe der sicherheitspolitischen Interessen“ – das war eine neue Formel in der politischen Eiswüste des Kalten Krieges.

Kennedys Deutschlandreise begann zwei Wochen nach seiner Rede in Washington. Köln, Bonn und Frankfurt am Main bildeten die ersten Stationen. In der Paulskirche sprach der Präsident am 25. Juni 1963 über die Notwendigkeit, Europa zu einigen. Ostpolitische Überlegungen spielten in seinen Ausführungen keine wesentliche Rolle. Einen Tag später flog er nach Berlin, besuchte dort den Checkpoint Charlie und trat anschließend am Schöneberger Rathaus vor 400.000 enthusiasmierte Zuschauer. Seine mitreißende Rede, die immer wieder von Sprechchören und der Skandierung seines Namens unterbrochen wurde, kulminierte im Vergleich zwischen dem antiken Rom und dem Freiheitsort Berlin. Sie gehört längst zu den zentralen Beständen des Kennedy-Mythos.

Für den Nachmittag war eine Visite der Freien Universität vorgesehen. Kennedy traf gegen 15 Uhr 20 in Dahlem ein, im offenen Lincoln Continental mit Washingtoner Kennzeichen, begleitet vom früheren amerikanischen Stadtkommandanten und persönlichen Vertreter des Präsidenten in Berlin Lucius D. Clay, Bundeskanzler Adenauer und dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt. Der Rektor, Ernst Heinitz, begrüßte ihn vor dem Henry-Ford-Bau und geleitete ihn zur Festbühne, die unter freiem Himmel vor dem Haupteingang errichtet worden war. 20.000 Menschen hatten sich auf dem Dahlemer Campus versammelt und bildeten ein breites Band, das sich von der Boltzmannstraße bis zur Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in der vorderen Garystraße erstreckte. Nach der Verleihung der Würde eines Ehrenbürgers der Freien Universität, die in einem zeremoniösen Akt mit Umhängen der Kette durch den Rektor vollzogen wurde, hielt Kennedy seine zweite große Rede an diesem Tag. Sie dauerte knapp dreißig Minuten und ließ die Zuhörer aufhorchen.

Die Schöneberger und die Dahlemer Ansprache unterscheiden sich auf bemerkenswerte Weise voneinander. Ihr Gegensatz lässt die Spannung erahnen, die Kennedys Außenpolitik in seinem letzten Lebensjahr kennzeichnete. Die punktuell improvisierte Rede vor dem Schöneberger Rathaus kultivierte die Rhetorik des Kalten Kriegs. Ihr spontaner Furor ließ Kennedys Berater Ted Sorensen aufschrecken, weil sie im Ton erheblich aggressiver ausfiel als die vorbereitete schriftliche Fassung. Sie setzte ganz auf Zuspitzung in einer Situation der Bedrohung, auf das Lob West-Berlins als Schutzburg der Freiheit, die Denunziation des östlichen Regimes als Inbegriff ideologischer Anmaßung – Positionen, die Kennedy unter dem direkten Eindruck von Mauer und Stacheldraht abweichend vom Manuskript ins Zentrum seiner Ausführungen stellte. An der American University hatte der Präsident zwei Wochen zuvor die US-Diplomaten angewiesen, künftig alle Formen rhetorischer Feindseligkeit zu meiden. Jetzt durchbrach er sein eigenes Gebot und fiel zurück in die Sprache der Kuba-Krise.

Die Dahlemer Rede geriet im Ton weniger scharf als jene des Vormittags. Kennedy nahm an der Freien Universität Überlegungen auf, die er zweieinhalb Wochen früher in Washington vorgetragen hatte. Er richtete sich dabei expressis verbis an die Mitglieder der Hochschule, die er als die Träger zukünftiger politischer Entscheidungen bezeichnete – ein Topos, den schon die Rede in Washington auf suggestive Weise nutzte. Zunächst argumentierte Kennedy entlang der Linien, die er am Vormittag gezeichnet hatte. Er sprach vom Regime eines östlichen Polizeistaats, von Schikanen und Bedrohungen unter der Sowjetherrschaft. Damit schlug er einen Bogen von der Gründung der Freien Universität 1948 zum Mauerbau 1961, von der akademischen Welt zur deutschen Teilung. Kennedy griff das Selbstbild der Freien Universität auf und verknüpfte es mit einer Analyse der politischen Konstellationen des Kalten Kriegs.

Zugleich aber formulierte er Angebote, die versöhnlich klangen. Er sprach davon, dass das Schutzschild der Freiheit dauerhaft kaum ausreiche, Frieden zu gewährleisten. „Hinter dem Schild ist es nicht genug, auf der Stelle zu treten und am Status quo festzuhalten, während man insgeheim auf eine Wende zum Guten wartet.“ Kennedy betonte ausdrücklich die Chance zur Veränderung, die „Möglichkeiten der Versöhnung“.

Im Gegensatz zu seiner pathetischen Massen-Ansprache vor dem Rathaus wählte Kennedy jetzt moderate Töne. Sie kündigten nichts weniger als die zwei Wochen zuvor an der American University bereits skizzierte neue Linie der Politik gegenüber dem Osten an. Für die Dahlemer Zuhörer waren das bisher unbekannte Anzeichen einer veränderten Konzeption der amerikanischen Außenpolitik.

An der Freien Universität trug der US-Präsident die Leitideen seiner strategischen Neubewertung des Kalten Kriegs vor, die er so deutlich in Europa noch nicht formuliert hatte. Die Metapher, die er an zentraler Stelle verwendete, um den bevorstehenden Wandel zu verdeutlichen, lautete „winds of change“: „Der Wind der Veränderung weht über den Eisernen Vorhang ebenso wie über den Rest der Welt hinweg.“

Für den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt bedeuteten Kennedys entschiedene Worte ein Signal, seine eigenen ostpolitischen Konzepte gemeinsam mit der US-Regierung weiterzuentwickeln. Schon die Rede an der American University hatte Brandt detailliert ausgewertet. Er selbst war wenige Tage zuvor in die USA gereist, um in Boston an der Harvard University die Ehrendoktorwürde in Empfang zu nehmen. Am 11. Juni 1963 ließ er in New York gegenüber der Presse verlauten, Kennedys Rede sei „ein neuer umfassender Versuch, das Verhältnis zwischen Osten und Westen ohne Illusionen zu ändern“.

Angesichts der Dahlemer Rede erkannte Brandt endgültig, dass es Kennedy ernst war mit seinem Kurs der Annäherung. Die unmittelbare Wirkung seiner Worte ließ nicht lange auf sich warten. Am 15. Juli 1963, nur drei Wochen nach dem Besuch des Präsidenten an der Freien Universität, hielt Brandts engster Vertrauter Egon Bahr, der Leiter des Berliner Presse- und Informationsamtes, vor der Evangelischen Akademie in Tutzing einen Vortrag, der Geschichte machen sollte. Auch Bahr hatte Kennedys Rede am 26. Juni sehr genau verfolgt; er saß wenige Plätze hinter dem Referentenpult vor der hohen Fensterfront des Henry-Ford-Baus.

In Tutzing sprach Bahr erstmals öffentlich über das gemeinsam mit Brandt entwickelte Modell einer neuen Deutschlandpolitik, die sich auf Verhandlungen statt auf reines Sicherheitsdenken stützte. Nicht weitere Spaltung durch Erhöhung des wirtschaftlichen Drucks, sondern Suche nach problemorientierten Vertragslösungen sei das Ziel, so Bahr. Er unterstrich sein Konzept mit einer Formel, die im Deutschland des Jahres 1963 noch auf heftigen Widerstand stieß: „Wandel durch Annäherung“. Der Vortrag Bahrs, der die Fundamente für die spätere sozialliberale Ostpolitik legte, wäre ohne Kennedys Rede an der Freien Universität schwer denkbar gewesen.

Die Einheit, die Kennedys Worte im Dahlemer Publikum stifteten, hielt einige Jahre, ehe sie zerbrach. Im Zuge des 1966 beginnenden studentischen Protests, der sich auch gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam richtete, entstanden neue Fronten, die durch die Mitte der bundesrepublikanischen Gesellschaft und ebenso durch die Freie Universität liefen. Kennedy, dessen Vietnam-Politik zwiespältig geblieben war, erlebte diese Zeiten des Aufruhrs nicht mehr. Der Weg der Entspannung, den er konzeptionell vorbereitete, ohne ihn schon beschreiten zu können, ist später durch andere ausgestaltet worden.

Von seiner Rede an der Freien Universität gingen Impulse aus, die in den seit 1970 verhandelten Ostverträgen der sozialliberalen Koalition als „Wandel durch Annäherung“ Realpolitik wurden. Wenn man den 50. Jahrestag von Kennedys Amtseinführung feiert, sollte dieser kaum bekannte Zusammenhang vergegenwärtigt werden.

Peter-André Alt

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