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Mon BERLIN: Die Deutsche Bahn ist eine Muse

Die Ferien rücken näher. Der Kopf ist wie Watte.

Die Ferien rücken näher. Der Kopf ist wie Watte. Gestern habe ich mich leicht panisch gefragt: Ich bin mit der Glosse dran, worüber, verdammt noch mal, soll ich nur schreiben?

Und das ist das Gute, wenn man mit der Deutschen Bahn reist. Nein, nein, keine Sorge. Ich werde hier keinen weiteren Anlauf nehmen, diese verehrungswürdige Institution zu demontieren, dieses Muster an germanischer Pünktlichkeit und Effizienz. Im Gegenteil. Dies ist eine Hymne auf die Deutsche Bahn. Die Muse aller Autoren auf der Suche nach einer Idee. Man steigt in den Zug ein, das Gehirn so leer wie ein Kühlschrank, wenn man das Einkaufen vergessen hat. Man steigt wieder aus und, o Wunder: Die Ideen schwirren wie ein fleißiger Bienenschwarm, die Wörter reihen sich leicht und geschmeidig aneinander, ganz von allein prasseln sie auf die Tastatur des Rechners. Bei der Ankunft ist die Glosse fertig!

Vor ein paar Tagen steige ich also in den ICE Berlin-Karlsruhe ein. Sechs Stunden, acht Minuten, direkt, reibungslos, verspricht die Bahn. Welch ein Luxus! Welch ein Komfort! Und dann das. Wir sind noch nicht mal in Braunschweig, als der Zug auf freiem Feld plötzlich anhält. Wer schon mit der Deutschen Bahn gereist ist, kann sich vorstellen, wie es weitergeht. Nach zehn Minuten murmelt eine entspannte Stimme einen Rosenkranz von Entschuldigungen. Allerdings haben entspannte Stimmen in solchen Situationen das Talent, primitive, brutale Aggressivität zu wecken. Eine sehr kultivierte Dame neben mir, ein Hermèstuch um die Vuitton-Tasche geschlungen, brüllt mit einer Stimme wie ein Droschkenkutscher: „Scheiß Deutsche Bahn!“ Ich zucke zusammen. Es wirkt so, als hätte das Synchronstudio an eine Lady der amerikanischen High Society versehentlich die falsche Stimme geklebt.

Eine halbe Stunde später stehen wir immer noch da. Ich habe Hunger. Ich habe nur einen Apfel mitgenommen. „Gut, Liebling, dass du uns ein bisschen Abendbrot mitgebracht hast“, sagt auf dem Platz vor mir ein alter Mann zu seiner Frau. Abendbrot? Es ist drei Uhr nachmittags. Butterbrotpapier knistert. Liebling packt die Eibrote aus. Die Eier und ihr Geruch breiten sich im ganzen Waggon aus. Ich bin wie erstarrt. Von meinem Platz aus höre ich in Stereo das langsame Mahlen der ehelichen Kiefer und die kleinen zufriedenen Seufzer. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Mein Magen knurrt. Um meine Qual noch zu steigern, fragt der Geschäftsmann hinter mir seine Frau, was sie fürs Abendessen vorgesehen hat. Beim Italiener an der Ecke hat sie Antipasto misto besorgt. Schon ist die Rotweinflasche zum Dekantieren geöffnet. Ich bin am Rand der Ohnmacht. Der Zug rührt sich nicht von der Stelle. Eine Yogalehrerin versucht die Dame mit dem Hermèstuch zu beruhigen. Sie haben doch Ihre Tasse Tee, die Landschaft zieht draußen vorbei, genießen Sie doch die Ruhe … was wollen Sie mehr? Ich habe Lust, die Yogalehrerin mit meinen eigenen Händen zu erwürgen. Zur Hölle mit der himmlischen inneren Ruhe! Ich will einfach nur ankommen!

Der Schaffner kommt mit seiner lethargischen Miene. Ich besitze die Frechheit, ihn nach dem Grund dieses Aufenthalts zu fragen, die sich wie Kaugummi zieht. Pro Woche wählen zwei Personen die Deutsche Bahn, um sich umzubringen! antwortet er mir. Fast schwingt in seiner Stimme ein wenig Stolz mit. Wenigstens in diesem Punkt ist die Deutsche Bahn bemerkenswert effizient!

Der Lautsprecher kündigt an, dass der Zug nicht bis Interlaken fahren wird, sondern nur bis Basel. Die Schweizer aus Interlaken stoßen unverständliche Schreie aus. Der Schaffner kommt wieder vorbei und gibt uns Umschläge. An uns ist es jetzt, ein drei Seiten langes Formular auszufüllen und den Fahrschein zu kopieren, damit wir eine Entschädigung bekommen. Die so überaus aufmerksame DB beschäftigt uns eine Dreiviertelstunde lang. Es ist wie im Flugzeug, wenn die liebenswürdigen Stewardessen Buntstifte und Malblöcke an die Kinder verteilen.

Nach sechs Stunden Fahrt und mehr als einer Eineinviertelstunde Verspätung sind alle Grenzen von Anstand und Scham gefallen. Liebling, satt, aber unzufrieden, brüllt ins Handy: „Ja ja, Rosi, Verspätung!“ Die Yogalehrerin fixiert das Nichts mit den glasigen Augen eines toten Fisches. Die Dame mit dem Hermèstuch ist eingeschlafen, den Mund offen wie ein Baby. Fahrscheine zeigen. Personalwechsel. Noch mal die entspannte Stimme. Langsam vergeht die Zeit. Es dauert nicht mehr lange. Inzwischen sitzt die Glosse fest auf der Tastatur.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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