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Theodor Heuss.

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Liberalismus in Deutschland: „Frei“ ist kein Zauberwort

Der deutsche Liberalismus wird historisch als Verräter an Individualrechten oder als Inbegriff sozialer Kälte diffamiert. Beides ist falsch.

Der politische Liberalismus in Deutschland hat im Dezember auf zwei historische Ereignisse zurückgeblickt: Vor 65 Jahren wurde Theodor Heuss zum ersten Vorsitzenden der neu gegründeten FDP gewählt, und vor 50 Jahren verstarb er nach einer zehnjährigen Amtszeit als erster Bundespräsident der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Über den eigenen Großvater zu schreiben, macht befangen. Unbefangen kann ich nur für mich sprechen, und das will ich tun, denn Liberaler ist man schließlich nicht aus unreflektierter Tradition, sondern aus Überzeugung.

Ich kann nicht gut vom Neuanfang im Dezember 1948 sprechen und den Scherbenhaufen vom September 2013 übersehen. Der Liberalismus hat die Geschichte, vor allem des deutschen Südwestens und später der Bundesrepublik nachhaltig geprägt, der Glaube an den Wert, an die schöpferische, die Gemeinwohl stiftende Kraft der Freiheit hat Generationen begeistert und Fesseln gesprengt. Heppenheim, das war in den vergangenen Jahrhunderten zweimal Synonym für einen Aufbruch zur Freiheit. Hier hatte der „Hessische Landbote“ im Vormärz skandiert: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“. Und heute?

Wer heute auf das Zentrum Berlins blickt, erkennt: Das Einzige, was sich dort seit Ende September sichtbar bewegt und verändert, ist der Rohbau des Stadtschlosses, das Tag für Tag ein Stück weiter über seinen Fundamenten wächst. Gewiss, es wird wieder ein wunderbarer architektonischer Abschluss „Unter den Linden“ werden – aber ist es nicht so: Das deutsche Parlament hat seine einstige freiheitliche Stimme verloren und die einzige Großbaustelle in Deutschland, die planmäßig voranschreitet, gilt der Rekonstruktion eines Symbols staatlicher Autorität, Stein gewordener Staatsgläubigkeit, dem der alte Friedrich mit dem Gestus des strengen, aber fürsorgenden Regenten entgegenreitet.

Nichts gegen die Wiedererrichtung des Humboldtforums und die Anknüpfung an historische städtebauliche Tradition. Aber wo ist die Tradition der bürgerlichen Freiheit geblieben? Weshalb ist es nicht gelungen, in diesem Land eine sich selbst gewisse Schicht verantwortungsvoller und verantwortungsbereiter Citoyens heranzubilden, die an die schöpferische Kraft des freien Menschen glauben und die der Freiheit einen unverrückbaren Wert im politischen Feld beimessen? Wie konnte es so weit kommen, dass „liberal“ zu einem Schimpfwort, dass die liberale Partei zu einem Objekt von Häme, Hass, Spott und öffentlicher Verachtung wurde?

Eine schlüssige Antwort habe ich nicht, außer der alten Gewissheit, dass Freiheit nicht von alleine kommt, sondern viel Arbeit bedeutet. Meine Antwort ist ein Satz aus der Rede, die Theodor Heuss in Heppenheim vor 65 Jahren gehalten hat. Er lautet einfach und nüchtern: „Das Wort ,frei’ ist noch kein Zauberwort.“ Ich glaube, die Formulierung galt jenen Strömungen, die mit einer gewissen Naivität einem ungeordneten Manchestertum nachhingen, sie galten als antiquiert und brachten auch damals das Wort „liberal“ in Verruf.

Ja der Enkel las mit Verwunderung, fast Befremden, in einem Brief, den meine Großmutter Elly an meinen Vater am 3. Dezember 1948 schrieb: „Lieber Lutz, … am 11. und 12. haben wir schrecklicherweise Reichsparteitag in Heppenheim: Bisher habe ich feierlich erklärt, dass ich austrete, wenn die Partei sich ,liberale Partei’ nennen sollte. Ich finde, das klingt nach von vor hundert Jahren. Es wird mir aber ja nicht viel nutzen. Der Theodor ist auch nicht dafür und kann aber auch nicht viel dagegen tun. Lebewohl, viele herzliche Grüße, Deine Mama.“

Der Weg zum Gründungsparteitag der FDP war alles andere als einfach, sondern gepflastert von heftigen Auseinandersetzungen und Flügelkämpfen. Merkwürdig auch: Offenbar hatte Heuss selbst ultimativ gefordert, auf den Begriff liberal, der ihm belastet schien „mit reiner Wirtschaftstheorie und leicht die Färbung des Lässigen bekommen hatte“ im Parteinamen zu verzichten. Die Partei hieß nun Freie Demokratische Partei, und doch schränkt er in seiner ersten programmatischen Rede gleich ein: „Das Wort ‚frei’ ist noch kein Zauberwort.“

Passt das zu unseren heutigen Vorstellungen von Liberalismus? Kann für einen Liberalen irgendetwas einen größeren Zauber besitzen als das Wort „frei“? Gerade dieser Tage wird ja viel davon gesprochen, sich an die Grundwerte, den Markenkern des Liberalismus zu erinnern. Für Heuss ergänzt sich das Wort „frei“ immer mit der Einbindung in Verantwortung. Dies wird in der für mich griffigsten und wohl auch zeitlosesten Formulierung deutlich, in der er den Kern seines liberalen Selbstverständnisses und die Mission dieser Partei wenige Tage nach seiner Wahl zu Papier bringt: „Ich suche den wagenden, den sich selbst behauptenden Menschen, der zugleich in der breiten Verantwortung und Gebundenheit steht.“ Wie sehr für ihn Verantwortung „soziale Verantwortung“ bedeutet, wird erkennbar, wenn er einen prominenten Abschnitt seiner Heppenheimer Rede der liberalen Tradition der Sozialpolitik widmet. Er erinnert an Schulze-Delitzsch und die Wurzeln des Genossenschaftswesens, an Lujo Brentano und die Gründung der Gewerkschaften, daran, dass „die wertvollsten Leistungen der deutschen sozialen Entwicklungen aus dem liberalen Gedankengut kamen“. Das ist für Heuss durchaus beste und ursprünglichste liberale Tradition. Er hätte noch von den Gründern des Vereins für Socialpolitik sprechen können, zu denen sein Schwiegervater Georg Friedrich Knapp zählte, und natürlich von Friedrich Naumann, seinem Mentor und Lehrer. Für ihn gehörte 1948 die liberale Tradition der Sozialpolitik, der Hilfe zur Selbsthilfe, mit Selbstverständlichkeit zum Markenkern des Liberalismus. Diese Selbstverständlichkeit ist im Lauf der Zeit, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung verloren gegangen – es gilt sie zurückzugewinnen.

Wenn liberale Sozialpolitik von Teilen der Öffentlichkeit in der vergangenen Zeit nicht mehr als Markenkern der FDP wahrgenommen wurde, wenn den Liberalen die unerträgliche Fratze der eiskalten Egoisten aufgesetzt wurde, so hat das viel mit den national, aber auch international unterschiedlichen Traditionslinien des Liberalismus und ihrem Anspruch auf Deutungshoheit über liberales Denken zu tun.

Die Geschichte des Liberalismus ist voller Konflikte und Aufspaltungen, die immer wieder ähnlichen Trennlinien folgten. Aus heutiger Perspektive ist es in diesem Zusammenhang reizvoll, über die Episode einer Nichtbegegnung zu spekulieren, die im Sommer 1947, also im erweiterten Vorfeld dieser liberalen Parteigründung nicht stattgefunden hat: Im Sommer des Hungerjahres 1947 verbrachte Heuss einige Wochen mit seinem engsten Freund, dem heute zu Unrecht weitgehend vergessenen liberalen Journalisten, ehemaligen Reichstagsabgeordneten und Schumpeter-Schüler Gustav Stolper und mit Erich Welter, dem späteren Gründungsherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Sie trafen sich im Schweizerischen Sils Maria und arbeiteten an einer politisch-ökonomischen Studie über die künftige Ausrichtung der westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Ziel war eine konzeptionelle Spurlegung, um die Zukunft Deutschlands im Sinne einer westeuropäisch-liberalen Demokratie zu sichern.

Praktisch zur gleichen Zeit traf sich in einem Grandhotel über den Ufern des Genfer Sees eine andere Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern, die den Liberalismus nach dem Zweiten Weltkrieg neu zu definieren suchten. Auf den Mont Pélérin hatte der maßgebliche Theoretiker des Liberalismus in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts geladen: Friedrich August von Hayek. Weder Stolper noch Heuss noch Welter waren Mitglieder dieses Kreises, aber offenbar wusste man voneinander, denn am 28. Juli 1947 schreibt Heuss aus Sils Maria an meinen Vater: „Nun kommt der Hayek am 4. August für einige Tage hierher; es wäre mir sehr wichtig, wenn ich sein Buch vorher lesen könnte. Kannst Du es mir als Eilsendung zugehen lassen?“

Zu dieser Begegnung ist es damals, aber auch später nie gekommen. Jedenfalls finden sich keine Dokumente, die darauf hinweisen würden, im Logierbuch des Hotels Waldhaus, findet sich Hayek in dieser Zeit nicht als Gast eingetragen.

Mich fasziniert die Vorstellung, wie in räumlicher und zeitlicher Nähe zwei ernsthafte liberale Gruppierungen mit einer weitgehend ähnlichen Intention getagt haben müssen. Beide hatten auf die Entwicklung des Liberalismus im Deutschland der Nachkriegszeit entscheidenden Einfluss. Sie wussten offenbar voneinander, doch der zentrale inhaltliche Konflikt, der sich letztlich auf den Umgang mit der sozialen Frage zuspitzt, blieb unbehandelt, dafür aber in seinen Auswirkungen bis heute virulent.

Ich versage es meiner Fantasie sich auszumalen, wie eine Begegnung im Sommer 1947 wohl verlaufen wäre. In seinem damals neuen, den „Sozialisten in allen Parteien“ gewidmeten Werk geht Hayek mit der Tradition des deutschen Liberalismus hart ins Gericht. Neben dem „Rohstoffdiktator Walter Rathenau“ findet Friedrich Naumann als „ehemaliger Marxist“ und Kriegstreiber lediglich abfällig Erwähnung als Wegbereiter kollektivistischer und totalitärer Tendenzen in der deutschen Vorkriegsgesellschaft. Auch später ist es nicht zu einer Begegnung gekommen. In den 1950er Jahren war die Rezeption Hayeks in Deutschland offenbar eher die eines lebendigen Anachronismus (Alexander Rüstow sprach von Paläoliberalismus) denn als politisch richtungsweisend. Seine politische „Renaissance“ und neue Wertschätzung setzte erst mit dem Beginn der 70er Jahre ein, also deutlich nach dem Tod von Heuss und der liberalen Gründergeneration. Die durch Hayek geprägte abfällige historische Sichtweise der Entwicklung des deutschen Liberalismus entfaltet aber in der amerikanischen New Austrian School of Economics bis heute eine unverminderte Wirkungsmacht.

Für mich brach in der damals noch nicht vorhersehbaren Perspektive eine Konfliktlinie auf, die bis in unsere Gegenwart fortdauert und manches Bild der Außen- oder Innensicht bestimmt. Insgeheim wünscht man sich doch, die beiden unterschiedlichen Strömungen hätten sich damals irgendwo zwischen Silser und Genfer See getroffen, sich bei rauchenden Köpfen und Zigarren gezofft, aber letztlich den goldenen Mittelweg gefunden, der den deutschen Liberalismus von der Hypothek befreit hätte, später einmal entweder als sozialistisch kollektivistischer Verräter an Individual- und Eigentumsrechten, oder als Inbegriff sozialer Kälte und egoistischer Ellenbogenmentalität diffamiert zu werden. Beides ist nämlich falsch.

Aber eben: Das Wort „frei“ ist noch kein Zauberwort. Das gilt auch im Rückblick. Ich möchte auch nicht falsch verstanden werden. Es geht mir bei diesen Ausführungen nicht darum, einen Bindestrich-Liberalismus gegen einen anderen auszuspielen. Doch der Blick auf die Krisen der Gründung vor 65 Jahren, die Konflikte der Vergangenheit und die Herausforderungen der Gegenwart lassen einen manchmal wünschen, dass das Wort „frei“ doch ein Zauberwort wäre.

Im Kern ging es damals und geht es uns heute immer wieder um das Gleiche: um die freie Entfaltung des Individuums, seine schöpferische Kraft und um die menschliche Würde durch Freiheit. „Der Mensch hat seine Würde dadurch, dass er ein freier Mensch ist“, an dieses humanistische Menschenbild, in dem Giovanni Pico della Mirandola anklingt, erinnerte Heuss in seiner Antrittsrede vor 65 Jahren, und was er vom freien demokratischen Menschen erwartete sei nochmals zitiert: „Ich suche den wagenden, den sich selbst behauptenden Menschen, der zugleich in der breiten Verantwortung und Gebundenheit steht.“

Der Autor ist Stellvertretender Vorsitzender

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Wagnis und Selbstbehauptung im Gleichgewicht mit Verantwortung und Gebundenheit: Diese Formulierung ist voller zeitloser Aktualität, da steckt alles drin: Marktwirtschaft, Bürgergesellschaft, soziale Verantwortung und Einbindung in das europäische Ganze.

Nicht vom Wort „frei“, aber von der Freiheit geht eben doch ein Zauber aus.

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