zum Hauptinhalt

POSITIONEN: Rechtsstaat, keine Gerechtigkeit

Die deutsche Justiz ignoriert die Erkenntnisse der Birthler-Behörde

Wir wissen es wieder seit Jochen Staadts Buch über die Stasi und die Medien (siehe Tagesspiegel vom 26.11.2008): Die Täter, Mittäter, Gehilfen und Mitläufer von einst sehen sich ungern mit ihrer DDR- Vergangenheit konfrontiert. Das ist verständlich. Ob Gysi, Stolpe, oder Diestel, sie riefen die Zivilgerichte an, um Bürgerrechtler, Opfer, Journalisten zum Schweigen zu bringen. Schon in den frühen 90er Jahren haben sie den Rechtswegestaat entdeckt, der allen offensteht. Eben auch denen, die, konfrontiert mit Rechercheergebnissen ihrer Vergangenheit, diese vor der Öffentlichkeit unterdrücken wollen. Das Rechtsmittel: die Unterlassungsklage oder -verfügung, das Ergebnis zumeist das gerichtliche Verdikt.

Die Reaktion der Justiz auf derartige Unterlassungsbegehren ist weniger verständlich. Eine Vorreiterrolle spielte die Hamburger Ziviljustiz: Ob Jürgen Fuchs, Bärbel Bohley oder Freya Klier, sie alle mit Berliner Wohnsitz, sahen sich von Gysi vor das Landgericht Hamburg zitiert. Fassungslos verwiesen sie gegenüber den Hamburger Richtern auf Aktenfunde der Birthler-Behörde, auf Recherchen der Enquete-Kommission des Bundestages. Sie fanden vor Gericht keine Beachtung, kein Gehör.

Bevor sie noch darüber nachdenken konnten, was wohl die Gründe für diese Ungeneigtheit der Hamburger Justiz seien könne, schlossen sich andere Gerichte, leider auch die in Berlin, dieser Rechtsprechung an. So untersagte zum Beispiel das Berliner Kammergericht einer Jugendorganisation, im Wahlkampf den Flyer mit der Aufschrift „Gysi hat gespitzelt“ zu verteilen. Aktenfunde gelten nicht als Wahrheitsbeweis, führen nicht einmal zur Umkehrung der Beweislast zugunsten derjenigen, die sich auf die Aktenfunde berufen.

Alle Hoffnungen richteten sich nun auf das Bundesverfassungsgericht. Die höchste deutsche Spruchkammer, der der Schutz der Bürger- und Menschenrechte anvertraut ist. Bekannt war, dass das Gericht im Umgang mit der Meinungsfreiheit großzügig verfuhr. So ließ es die Feststellung zu: „Soldaten sind Mörder in Uniform.“ Bekannt war auch, dass das Gericht mehrfach den Vorrang der Meinungsfreiheit bestätigt hatte. Wie konnte es also Opfern von MfS-Schikanen oder -Quälereien den rechtlichen Schutz verweigern, darüber in der Öffentlichkeit zu reden oder nachzudenken? Groß deshalb die Enttäuschung, als das Bundesverfassungsgericht der Annahme der Verfassungsbeschwerde der Bürgerrechtlerin Freya Klier gegenüber Entscheidungen der Hamburger Justiz die Annahme verweigerte, mit lapidarer Begründung.

Diese Abstinenz ist nicht nur für Anwälte unbefriedigend. Die Aufklärung Begehrenden schreckt das streitwertgebundene Kostenrisiko zusätzlich davon ab, die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit zu suchen. Der Verfassungsgrundsatz „Im Zweifel für die Meinungsfreiheit“ gehört der Vergangenheit an. Die Justiz weigert sich, akribisch erarbeitete Rechercheergebnisse über die DDR-Wirklichkeit zu berücksichtigen.

Deutschland wird in Mittel /Osteuropa bewundert für seinen offenen, freien Umgang mit der braunen und der roten Vergangenheit. Es hat sich dort allerdings noch nicht herumgesprochen, welche dämpfende Rolle die deutsche Justiz dabei spielt. Ebenso wenig die relativierende Wirkung dieser Rechtsprechung auf die Resultate der Birthler-Behörde. Diese Desavouierung der Behörde wird in der Öffentlichkeit bisher kritiklos hingenommen. Die von der Behörde erarbeiteten Resultate sind im Rechtsstaat belanglos.

Deshalb der Appell an die Justiz, zu der liberalen Rechtsprechung der 90er Jahre zurückzukehren. Dahinter steht kein Rachebedürfnis. Eher die Erkenntnis, dass die Zukunft nicht ohne Erhellung der Vergangenheit gewonnen werden kann. Eine Justiz aber, die sich dem Streit um die Vergangenheit durch Nichtbefassung mit den Quellen verweigert, lässt nicht nur die Petenten im Stich. Sie verwehrt dem Rechtsstaat das Urteil über den Unrechtsstaat, die ihn tragenden Figuren. Wer erinnert sich nicht an Bärbel Bohleys erstaunten Ausruf zu Wendezeiten: „Wir dachten, wir erhielten Gerechtigkeit, aber es kam der Rechtsstaat.“

Der Autor ist Vizepräsident des Berliner Abgeordnetenhauses und Anwalt von Bärbel Bohley.

Uwe Lehman-Brauns

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false