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NS-Geschichte: Aufwühlende Begegnungen

Was ein Sozialwissenschaftler als Betreuer von jungen Deutschen und Polen in KZ-Gedenkstätten erlebt.

Kürzlich hat Hartmut Ziesing mal wieder Jugendliche aus Polen und Deutschland über das Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers geführt. 16- und 17-Jährige, die zuvor mehrere Tage in Auschwitz waren und nun einen Tag in der Gedenkstätte Bergen-Belsen die Geschichte dieses Lagers kennenlernen wollten. Aus Auschwitz hatten sie noch die Bilder von den Häftlingsbaracken und den Verbrennungsöfen im Gedächtnis. In Belsen fanden sie auf den ersten Blick nur eine große, leere Heidelandschaft – wegen Seuchengefahr wurden unmittelbar nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen alle Gebäude verbrannt. „Das Gute ist, dass man sich hier ein Bild im Kopf machen muss, um zu verstehen, was passiert ist“, sagt ein polnischer Jugendlicher.

Ziesing war sieben Jahre Studienleiter der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz, dem heutigen Oswiecim. Seit Mai 2007 ist er pädagogischer Mitarbeiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Der Sozialwissenschaftler erinnert sich an seinen ersten Aufenthalt in Oswiecim im Jahre 1988, als einige Jugendliche aus seiner Gruppe abends in eine Kneipe gehen wollten. Die Mehrheit der Jugendlichen war allerdings gegen das abendliche Amüsement: Wie könne man angesichts des Massenmordes an Bier denken, lautete damals ihre Argumentation.

Heute gehen deutsche Jugendliche ohne Probleme abends in Oswiecim tanzen oder ins Kino. Ziesing begrüßt diese Unbefangenheit. „Für die heutigen Jugendlichen ist der Nationalsozialismus so weit weg wie der 30-jährige Krieg. Die meisten kennen niemanden mehr, der die NS-Zeit bewusst erlebt hat. Sie lernen darüber oft mehr als Schüler vor 15 Jahren, aber sie vergessen das auch wieder schneller. Früher gab es mehr Sensibilität, aber auch mehr Abwehr. Heute sind die Jugendlichen offener.“ Das liege auch daran, dass es heutzutage Konsens sei, das Thema im Unterricht zu behandeln. „Früher konnte man das nicht, weil es Widerstände gab, dass man in der Schule überhaupt darüber spricht“, sagt Ziesing.

Am meisten wühlten die Jugendlichen die Begegnungen mit ehemaligen KZ-Häftlingen auf – wenn sie erstmals aus dem Munde von Überlebenden hören, was sie vorher nur in Geschichtsbüchern über die systematische Ermordung von Millionen von Menschen nachlesen konnten. Nicht nur über die Opfer wollten die deutschen Jugendlichen etwas wissen, sondern auch über die Täter und was mit ihnen nach Ende des Krieges geschah. Weniger als 500 wurden wegen ihrer Beteiligung an der organisierten Judenvernichtung von deutschen Gerichten bestraft. So unvorstellbar dies für viele heute ist – Schuldgefühle, die bei den Kindern und Enkeln der Tätergeneration noch eine Rolle spielten, tauchen heute meist nur als Ergebnis von Missverständnissen auf, wie Ziesing berichtet: „Deutsche Jugendliche sprechen bei den Tätern von Nazis oder SS-Leuten, die Polen häufig allgemein von Deutschen. Dies führt manchmal zu Konflikten, weil deutsche Teilnehmer dies als Vorwurf der kollektiven Schuld ansehen und sich dadurch angegriffen fühlen. Das können Jugendliche aus Polen oder Israel nicht begreifen, denn keiner kommt von ihnen auf die Idee, Gleichaltrige aus Deutschland für eine Zeit verantwortlich zu machen, die sie nicht miterlebt haben.“

Junge Leute aus Polen fragen nur selten nach den Tätern, sondern sehen sich in der Tradition der Opfer, derer sie in Auschwitz oder Bergen-Belsen gedenken wollen. Mit dem bekanntesten Opfer von Bergen-Belsen, Anne Frank, können sie oft nicht viel anfangen – in Polen wird in der Schule das Tagebuch des damals 13-jährigen Dawid Rubinowicz gelesen, das dem von Anne Frank an vielen Stellen ähnelt. Die Umbenennung einer Straße nach Anne Frank wurde vor vielen Jahren in Bergen von aufgebrachten Bürgern verhindert, die nicht immer wieder an den Massenmord vor ihrer Haustür erinnert werden wollten. Diese Stimmung kennt Ziesing auch aus Oswiecim. „Zu Bergen-Belsen gibt es aber einen entscheidenden Unterschied: Nicht Polen, sondern Deutsche haben das KZ Auschwitz errichtet und dafür Polen enteignet“, sagt Ziesing. „Viele Menschen in Oswiecim fühlen sich durch ausländische Besucher der Gedenkstätte dafür verantwortlich gemacht, dass sie oder ihre Vorfahren diese Todesfabrik nicht verhindert haben.“

Joachim Göres[Bergen-Belsen]

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