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Die Ampel, damals noch im Werden: Die Partnerparteien verstehen sich als progressives Bündnis.

© dpa

Ampel als Modernisierungsprojekt: Die Mitte ist nicht verschwunden

Wie sich gesellschaftliche Milieus neu formieren und warum das Ampel-Bündnis große Chancen bietet. Ein Gastbeitrag.

Die neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP ist keine Liebesheirat. Die beteiligten Partner befinden sich auf einigen Politikfeldern an gegensätzlichen Positionen des Parteiensystems. Das Ampel-Bündnis hat aber trotzdem oder sogar deswegen das Potenzial, nicht nur die in der Merkel-Ära liegengebliebene Modernisierung in vielen Bereichen zu meistern, sondern neue Brücken zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu schlagen.

Die Ampel ist eine Koalition aus drei Parteien, die sich auf Augenhöhe begegnen wollen und müssen, denn die SPD ist mit nur knapp 26 Prozent Wahlanteil der schwächste Wahlsieger der bundesdeutschen Geschichte und hat zwei numerisch starke Koalitionspartner. Damit könnte die Zeit der Großen Koalitionen vorerst vorbei sein – und damit auch die in der Vergangenheit erfolgte Fokussierung auf den ‚Medianwähler‘, also denjenigen, der im Politikraum genau in der Mitte steht und um den die Union traditionell mit der SPD konkurrierte.

Es ist eine neue fluide Mitte entstanden

Das ist eine gute Nachricht, denn diese Fokussierung auf die scheinbare „Mitte“ verdeckte den Blick darauf, dass sich die Bevölkerung schon lange in verschiedene Segmente ausdifferenziert hat, die sich in ihren Einstellungen und Wertorientierungen unterscheiden. Dass diese Ausdifferenzierung nachhaltig ist, kann auch daran festgemacht werden, dass kürzlich die in der Konsumentenforschung beliebte Segmentierung der Sinus Milieu neu- und umverteilt wurde. Bemängelt wurde dabei medial, dass dort die „Mitte“ verschwunden sei, dies ist jedoch zu kurz gegriffen.

Nicht die Mitte ist verschwunden, es haben sich vielmehr Einstellungen verändert, die früher gesellschaftliche Mehrheiten ausmachten. Dadurch ist eine neue fluide Mitte entstanden, die sich deutlich beweglicher zeigt, was die Kombination von materialistischen und postmaterialistischen Einstellungsmerkmalen betrifft. Dies wird umso deutlicher, wenn man bei der Frage ansetzt, wo man den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland konkret beobachten kann.

Sinnvolle Analysen von Bevölkerungsgruppen können sich nicht mehr nur ausschließlich auf soziodemografische Merkmale fokussieren, da sich gesellschaftliche Gruppen nicht mehr nur soziostrukturell, sondern vor allem auch soziokulturell unterscheiden. Das bedeutet nicht, dass soziale Ungleichheiten und materielle Kategorien nicht wichtig seien, ganz im Gegenteil. Ein Fokus auf die Einstellungs- und Wertebene ermöglicht aber ein akkurateres Bild von Lebenslagen einer ausdifferenzierten Gesellschaft.

Modernisierungsfreundliche stellen die Mehrheit

Untersuchungen der Berliner Forschungs- und Beratungsagentur pollytix, deren Co-Gründer einer der Autoren ist, zeigen seit einer Weile, dass sich die Gesellschaft in Deutschland auf der Basis von Lebenslagen, gesellschaftspolitischen Einstellungen und Werten in acht Segmente, von den „desillusionierten Abgehängten“ über „passive Reformer“ bis zur „gehetzten Mitte“, unterteilen lässt.

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Die Gesellschaft ist dabei mehrheitlich geprägt von modernisierungsfreundlichen Segmenten: Verschiedene Segmente können sich auch bei stark variierenden Lebensentwürfen auf eine weltoffene und am sozialen Ausgleich ausgerichtete Politik verständigen und sehen gemeinsam den Klimawandel, die Digitalisierung sowie die mannigfaltigen Transformationsprozesse in unserer Wirtschaft als die zentralen Herausforderungen. Dabei werden Heimatverbundenheit und Interesse an Kulturen anderer Länder und den Chancen von Zuwanderung miteinander verbunden. Zugleich werden Entwicklungen wie Globalisierung und Digitalisierung persönlich positiv bewertet und auch gesamtgesellschaftlich eher als Chance denn als Risiko gesehen.

Die Ampel hat ihre Unterstützer in unterschiedlich hoch gebildeten, dabei aber überwiegend toleranten und gleichzeitig stark geforderten Segmenten der Gesellschaft, die gemeinsam die Mehrheit der Menschen in Deutschland repräsentieren. Ihre politischen Unterschiede ermöglichen so einen unmittelbaren Ausgleich entlang gesellschaftlicher Spannungslinien.

Eine lagerübergreifende Koalition kann große Vorteile haben

Die SPD hat, wenn man Wahlentscheidungen segmentspezifisch analysiert, vor allem in eher traditionelleren, politikferneren und prekären Segmenten wieder Boden gut gemacht und hier als Partei wieder Glaubwürdigkeit im Bereich Soziales und Arbeit gewonnen. Die Grünen sind aktuell stark in gehobenen sozial-progressiven Segmenten, in denen sie stets mit der SPD konkurrieren, sowie in der gehetzten Mitte, der Heimat vieler moderater Merkel-CDU-Wähler. Die FDP dagegen hat ihre Hochburgen im Segment der liberalen Leistungseliten.

Die Ampelkoalition ist damit – von strikt Antimodernen und extrem Desillusionierten abgesehen – in fast allen gesellschaftlichen Segmenten mehrheitsfähig. Dazu sind mit den Grünen und der FDP zwei Parteien an Bord, die insbesondere bei Jung- und Erstwählern starke Ergebnisse erzielten, was im besten Fall dazu führt, junge Menschen wieder stärker für Politik zu gewinnen.

Eine solche lagerübergreifende Koalition kann für die Politikvermittlung einen großen Vorteil darstellen. Sie ermöglicht wieder konstruktiven Streit um verschiedene Positionen und Debatten. Auf all diese Entwicklungen muss auch die neue Unionsführung in der Opposition reagieren.

Der erste Test ist aktuell die Debatte um den Einsatz von Atomkraftwerken in Europa. Hier stehen unterschiedliche Positionen in der Koalition auch stellvertretend für die Meinungspluralität in den modernisierungsfreundlichen Segmenten. Denn natürlich gibt es dort in vielen Bereichen unterschiedliche Auffassungen über die richtigen politischen Instrumente, auch wenn Ziele geteilt werden.

Die gemeinsame Basis – die gesellschaftliche Modernisierung – trägt diese Koalition, wenn sie unterschiedliche Sichtweisen in der öffentlichen Debatte zulässt. So kann die Ampel-Koalition die Möglichkeit nutzen, die ökologische und digitale Transformation positiv zu gestalten und dabei soziale und liberale Aspekte zu berücksichtigen.

Rücksichtnahme aufeinander ist wesentlich

Die Rücksichtnahme aufeinander ist wesentlich, da sie den Partnern politische Unterscheidbarkeit lässt. Dabei kann sie wie gezeigt stets auf die mehrheitlich modernisierungsfreundlichen Einstellungen in der Bevölkerung bauen, die sich in den vergangenen Jahren herausgebildet haben.

Dabei gilt, dass ihre Politik natürlich öffentliche Gegenreaktionen und manchmal interne Reibung erzeugt. Gerade in Diskussionen, die durch soziale Medien bestimmt sind, werden wir dies auch in heftiger Form erleben. Doch durch die unterschiedlichen Positionierungen der Ampel-Parteien kann es dann gelingen, weite Teile der Bevölkerung zu erreichen und die Mehrheitseinstellungen auch in konkrete Politik zu übersetzen.

Rainer Faus ist geschäftsführender Gesellschafter der pollytix strategic research gmbh. Fedor Ruhose ist Policy Fellow des Think Tanks „Das Progressive Zentrum“ und Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung des Landes Rheinland-Pfalz.

Rainer Faus, Fedor Ruhose

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