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Sexueller Missbrauch: Es geht um Macht

In dem am Donnerstag in Berlin vorgestellten Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ wird das Thema sexueller Missbrauch von Kindern ausgeklammert. Worin unterscheidet sich sexueller Missbrauch von Misshandlung?

Von Caroline Fetscher

Sexueller Missbrauch eines Kindes gilt, oft auch noch in Fachkreisen, als etwas anderes als Misshandlung. Das ist insofern richtig, als Missbrauchende häufig andere Täterprofile aufweisen. „Pädophile“, die inzwischen klarer Pädokriminelle genannt werden, entwickeln gern subtile Strategien, sich Kinder gefügig zu machen. Gleichwohl ist die Trennschärfe zwischen Missbrauch und Misshandlung wissenschaftlich nicht so deutlich, wie die Zweiteilung behauptet. Eine Publikation etwa wie das klinische Standardwerk „Das misshandelte Kind“, herausgegeben von den namhaften Experten wie Mary Helfer, Ruth S. Kempe und Richard D. Krugman (Suhrkamp, 2002) trennt diesen Bereich der Gewalt nicht ab. Der Untertitel listet sexuellen Missbrauch unter anderem neben körperlicher Gewalt und Vernachlässigung auf.

Unter sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern wird jeder physische oder psychische Übergriff verstanden, der die Intimregion eines Kindes berührt oder verletzt, und/oder die intimen Gefühle eines Kindes missachtet. Der minderjährige Mensch ist hierbei Mittel zum Zweck zur Befriedigung eines Volljährigen. Unter Missbrauch fallen Handlungen wie das Anfassen des Genitalbereichs, sexualisiertes „Streicheln“ eines Kindes, Penetrieren von Körperöffnungen eines Kindes, Ejakulieren auf dessen Körper, Zeigen von Pornographie, Erzwingen von Entblößung wie sexueller Betätigung und vieles mehr, wie das Herstellen von Kinderpornographie.

Sexualtäter gehen gegen Kinder oft anders vor als von offen sadistisch-aggressiven Impulsen bewegte Täter. Gleichwohl: Auch bei der sexualisierten Gewalt geht es in erster Linie um Macht über das Kind. Es geht nicht um Eros, sondern um Gewalt. Die Folgeschäden entsprechen weitgehend denen bei der Misshandlung, mit dem Unterschied, dass viele Missbrauchsüberlebende besondere Probleme mit Eros und Partnerschaft entwickeln.

Von den 40227 Kindern, die das Jugendamt 2012 für kürzere oder längere Zeit „in Obhut genommen“, also den Eltern vorübergehend das Sorgerecht entzogen hat, zählten nur 635 als Fälle von sexuellem Missbrauch (siehe Grafik). Der Anlass für die meisten, nämlich 17289 der Inobhutnahmen, fiel unter das Rubrum „Überforderung“ der Eltern, eine wenig aussagekräftige Kategorie, die sich im Sozialarbeiterjargon als besonders „sozial- und kultursensibel“ durchgesetzt hat.

2012 wurden laut Kriminalstatistik 14865 Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs, ein Jahrzehnt früher waren es noch 20389. Verlässlich sind die Zahlen keineswegs. Es handelt sich um angezeigte Fälle, die Dunkelziffer ist hoch. Auch ist nicht immer zu beurteilen, ob die Zahl der Anzeigen eher steigt, wenn massiv Fälle in die Öffentlichkeit dringen, wie 2010 (in dem Jahr gab es 14407 Fälle), oder ob das Gegenteil eintritt, wenn Tabu und Schweigekartell eher stärker werden. Tabus sind bei diesem Dunkelfeld noch massiver am Werk als bei der Misshandlung. Sigrid Richter-Unger, Leiterin der Berliner Beratungsstelle „Kind im Zentrum“ (KiZ) für sexuell missbrauchte Kinder und Erwachsene sowie deren Angehörige, erfährt das täglich. Bei der Beratungsstelle weiß man auch, wie wichtig professionelle Therapie oder das Begleiten von Kindern während eines strafrechtlichen Verfahrens gegen Täterin beziehungsweise Täter sind. Die Mitarbeiter des Zentrums halten frühe Prävention für den Schlüssel zur Verbesserung der Situation. Derzeit haben sie den Eindruck, dass sexualisierte Aggressivität schon unter jungen Kindern zunimmt. Kindgerechte Sexualpädagogik in Kitas ist daher einer der Wege, die zur Prävention gegangen werden.

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