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Die Angeklagte bei ihrem Prozess vor dem Landgericht Itzehoe

© AFP / Marcus Brandt

Späte Holocaust-Prozesse: Die Justiz versagt, wenn sie es sich leicht macht

Die frühere Sekretärin im KZ Stutthof geht gegen ihr Urteil vor. Das bietet Gelegenheit, genau hinzusehen – und damit einen alten Fehler der Justiz zu vermeiden.

Eine Kolumne von Jost Müller-Neuhof

Es ist zu akzeptieren, wenn Angeklagte Schuld von sich weisen. Auch wenn sie angeklagt sind, am Menschheitsverbrechen Holocaust beteiligt gewesen zu sein.

So hat die heute steinalte frühere Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof jetzt Revision gegen ihre Verurteilung wegen Beihilfe zum Massenmord einlegen lassen. Sie nimmt das Urteil nicht an. Alles, was Irmgard F. sagte, war: „Es tut mir leid, was alles geschehen ist und ich bereue, dass ich zu der Zeit in Stutthof war.“

Es ist zu akzeptieren, aber für Opfer der NS-Morde und ihre Angehörigen ist es schwer zu verkraften. Möglicherweise ist dies der letzte Prozess in der späten Aufarbeitung der NS-Verbrechen, und das fällige Zeichen der Sühne wird vertagt. Kann sein, dass auch diese Angeklagte stirbt, bevor ein rechtskräftiges Urteil gesprochen ist. Gleichwohl: Auch ein Nebenklagvertreter wollte die Revision.

Es tut mir leid, was alles geschehen ist und ich bereue, dass ich zu der Zeit in Stutthof war.

Irmgard F., frühere Sekretärin im NS-Konzentrationslager Stutthof

Und das ist richtig so. Die Justiz hat es sich zu leicht gemacht, als sie lange nur der unmittelbaren Mordhelfer habhaft werden wollte und die kleinen Rädchen überging, die die Maschine am Laufen hielten. Rückblickend natürlich ein Versagen. Man hätte aufmerksamer sein, Versäumnisse früher rügen, Verdächtige rechtzeitig anklagen müssen.

Aber zu leicht macht man es sich auch, die Schuld dafür bei der Justiz zu suchen. Es fehlte an Druck und öffentlicher Diskussion. Und es fehlte an Einsicht. So war es denn auch eher kein Wechsel der Rechtsprechung, der zu den Anklagen gegen mutmaßliche Mordhelferinnen wie Irmgard F. führte, sondern ein Wechsel der Perspektive: Weg von einzelnen Taten und Tätern, hin zur systemischen Dimension des Verbrechens in den jeweiligen Vernichtungslagern. Und damit: Hin zu einer Ausweitung der Verantwortlichkeit für das Ungeheuerliche.

Das war nötig, und es ist gerecht. Es erübrigt sich damit aber nicht, bei jedem Fall genau hinzusehen. Auch nicht bei der 97-jährigen Irmgard F., die sich jetzt für die 18-Jährige Irmgard F. verantworten muss, die damals für den Lagerkommandanten Briefe tippte.

Es könnte ein anderer, ein schwierigerer Fall sein als der von John Demjanjuk oder Oskar Gröning, zwei verurteilten KZ-Wachleuten. Die Justiz versagt, wenn sie es sich – wieder – leicht macht. Ein sorgfältig begründetes Urteil des Bundesgerichtshofs gegen Irmgard F. könnte zeigen, dass man dies verstanden hat.

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