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Politik: Ungleiche Riesen

Indiens Premier Singh besucht China – eine Entwicklungsdiktatur, in der Demokratie ein Fremdwort ist

Zusammen regieren sie mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung. Wenn Indiens Premier Manmohan Singh Anfang der Woche in Peking auf Chinas Staats- und Parteichef Hu Jintao trifft, dann ist das in gewisser Weise ein Zukunftsgipfel. China und Indien sind die wirtschaftlich dynamischsten Länder dieses Jahrhunderts. Künftig werden sie die Weltpolitik mitprägen.

Der Besuch Singhs in China ist für Peking und Neu-Delhi, die 1962 in einen Grenzkrieg verwickelt waren und sich bis heute argwöhnisch gegenüberstehen, ein weiterer Schritt in der Normalisierung ihrer Beziehungen. Politisch ist das Verhältnis der beiden Großmächte nicht störungsfrei. Indien gewährt seit einem halben Jahrhundert dem Dalai Lama Exil, der von China als Staatsfeind angesehen wird. Rund 120 000 Tibeter, die zumeist über den Himalaja aus China geflüchtet sind, leben heute in Indien. Umgekehrt stört sich Neu-Delhi an Pekings engen Beziehungen zu Indiens Erzrivalen Pakistan. Seit drei Jahren verhandeln Peking und Neu-Delhi immerhin über eine Lösung des jahrzehntealten Grenzkonflikts. Ein Durchbruch wird bei dem Singh-Besuch jedoch nicht erwartet.

2006 war mit Hu Jintao zum ersten Mal seit einer Dekade ein chinesischer Staatschef zu Besuch in Neu-Delhi. Damals vereinbarten beide Seiten den Ausbau einer „strategischen Partnerschaft“ und eine Verstärkung der Wirtschaftskontakte. Im vergangenen Jahr stieg der gemeinsame Handel auf 37 Milliarden US-Dollar – eine Verzehnfachung in fünf Jahren.

China und Indien werden in der westlichen Debatte oft zu Unrecht in einen Topf geworfen. Beide Länder haben riesige Bevölkerungen, beide sind Atommächte, beide zeichnen sich durch ein rasantes Wirtschaftswachstum aus – doch hier enden auch schon die Parallelen. Politisch und sozial könnten diese künftigen Großmächte kaum unterschiedlicher sein. Nach zwei Jahrzehnten Öffnungspolitik ist China heute eine Entwicklungsdiktatur. Turbokapitalismus in Verbindung mit strikter Einparteienherrschaft hat das Land ökonomisch riesige Schritte nach vorne gebracht. Wer heute durch China reist, fährt über gut ausgebaute Autobahnen, sieht moderne Städte und riesige Industriegebiete.

Indiens Erfolge sind weniger offensichtlich. Das Verkehrssystem ist chaotisch, Busse und Eisenbahnen sind chronisch überfüllt, die Infrastruktur rückständig. Auch hat es Indien noch weniger als China geschafft, die Früchte des wirtschaftlichen Aufstiegs auf alle Bevölkerungsschichten zu verteilen. 800 Millionen Inder, die meisten sind Landbewohner, haben weniger als zwei Dollar am Tag zum Leben.

Manche Beobachter und Wirtschaftsbosse haben deshalb bereits China zum Gewinner im Rennen der beiden Aufsteiger erklärt. Das ist allerdings voreilig. Ökonomisch mögen die Chinesen den Indern ein Jahrzehnt voraus sein. Politisch ist jedoch Indien weiter. Im Gegensatz zu China, das wie zu den Zeiten Maos von einer kleinen Gruppe von Mächtigen der Kommunistischen Partei regiert wird, ist Indien eine weitgehend funktionierende Demokratie – die größte der Welt.

Demokratische Regierungsformen, das zeigt der Föderalstaat Indien, sind mühsam. Bevor eine indische Straße oder ein Hafen gebaut werden können, müssen die Regierenden das Volk fragen. Konkurrierende Interessen und Stimmungen sind zu berücksichtigen und abzuwägen. Das bremst die Entwicklung.

China hat genau das gegenteilige Problem. Die Volksrepublik entwickelt sich mit einem fantastischen Tempo, aber zu oft in eine falsche Richtung. Der Bauboom verwandelt die Städte in menschenfeindlichen Betonwüsten. Immer neue Industriegebiete machen die Menschen krank. Die Korruption sorgt dafür, dass die Wohlstandskluft immer größer wird.

Viele dieser Probleme existieren genauso in Indien. Doch im Gegensatz zu China, wo die KP wie ein schwerer Deckel alle ethnischen und sozialen Probleme überdeckt und der gesellschaftliche Druck damit immer größer wird, hat Indien ein System zur Lösung seiner gesellschaftlichen Probleme.

Die indische Demokratie hat Schwächen. Die globalen Risiken durch China sind jedoch ungleich größer, wenn eines Tages die Kommunistische Partei ihre Macht verlieren sollte, soziale oder ethnischen Unruhe das Land erfassen und die Provinzen wegbrechen.

Wünschenswert ist so eine Entwicklung aus westlicher Sicht nicht. Auch wenn chinesische und indische Firmen in Zukunft zu einer ernsthaften Konkurrenz für westliche Unternehmen heranwachsen werden, hat die Welt ein grundlegendes Interesse an dem Erfolg beider Länder. Warum? Weil es 2,5 Milliarden Inder und Chinesen auf dieser Welt gibt.

Harald Maass[Peking]

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