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Michail Tkach überlebte als Kind den Holocaust.

© Ottmar Winter PNN / Ottmar Winter PNN

„Alle waren fort“: Wie Michail Tkach als Kind den Holocaust überlebte

Als er ein Kind war, floh seine Mutter mit ihm vor den Nazis. Seit vielen Jahren lebt Michail Tkach nun in Potsdam. Was das Erinnern ihm bedeutet.

Von Alicia Rust

Manchmal sind Bilder wie ein Fenster in eine andere Welt. Im Fall von Michail Tkach sind die Zeichnungen und Gemälde, die an den Wänden des gemütlichen Wohnzimmers hängen, Verbindungen in sein altes Leben. „Das hier ist Riga“, sagt der 84-jährige und zeigt auf die Abbildung einer historischen Burganlage, daneben ist Vilnius zu sehen. Michail Tkach arbeitete einst als Ingenieur. Er ist viel gereist in seinem Leben. Nach Zerfall der Sowjetunion waren die Zeiten immer schwieriger geworden. Nach Deutschland kam er schließlich gemeinsam mit seiner Frau im Jahr 2001.

Geboren wurde Michail Tkach 1938 in einem Schtetl im Norden der Ukraine. Dort in Narodichi lebte ein Großteil seiner Familie. Eltern, Großeltern, zahlreiche Onkel und Tanten, Cousinen. Die Familie war jüdisch. Wie damals etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Ortes. In den 1920er-Jahren gab es drei Synagogen.

1939 gab es 1233 Juden in Narodichi, 1941 keinen mehr

Im Jahr seiner Geburt war Tkachs Mutter als Studentin an der Universität Kiew eingeschrieben, später machte sie ihren Abschluss als Lehrerin in den Fächern Chemie und Biologie. Ein Jahr später wurde sein Vater zum Militär eingezogen. Als Offizier. Als sich die Situation im Krieg zuspitzte, habe seine Mutter die Gelegenheit ergriffen und sei mit ihrem kleinen Jungen und den Eltern nach Zentralasien geflohen. Nach Tadschikistan. Sie blieben, bis Michail etwa sechs Jahre alt war.

1939 hatte der Anteil der jüdischen Bevölkerung des ukrainischen Ortes Narodichi noch rund 1.233 Personen betragen, etwas weniger als die Hälfte aller Bewohnerinnen und Bewohner. Keine zwei Jahre später, als deutsche Truppen die Stadt am 22. August 1941 besetzten, war der jüdische Anteil der Bevölkerung ausgelöscht. Es habe zwei - möglicherweise auch drei - Massaker gegeben.

Als mein Vater 1944 in die Heimat zurückkehrte, waren alle Verwandten weg.

Michail Tkach, ehemaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Potsdam

Michail Tkachs Großeltern väterlicherseits und weitere Verwandte waren nach einer kurzen Phase der Flucht nach Narodichi zurück gekehrt. Sie hatten nicht geglaubt, dass ihnen etwas geschehen würde. „Nach dem Krieg erfuhren wir, dass alle zurückgekehrten Verwandten von den Deutschen erschossen worden waren“, sagt Tkach. „Meine Großmutter war tot, ihre zwei Töchter und ihr Sohn.“ Nur der Vater seines Vaters habe zunächst überlebt, weil er Tischler war. „Er sollte helfen, eine Kirche zu bauen.“ Als er damit fertig war, sei auch er – wie alle Bauarbeiter – 1943 von Nationalsozialisten erschossen worden.

„Als mein Vater 1944 in die Heimat zurückkehrte, waren alle Verwandten fort“, sagt Tkach. An was kann er sich erinnern? „Ich habe einige Bilder im Kopf.“ Erinnerungsfetzen, Szenen. Sein Großvater mütterlicherseits starb im Exil. „Er war ein sehr gläubiger Mensch“, sagt Tkach. Er habe mit der Großmutter im Zimmer nebenan gewohnt. Alle seien auf den Friedhof gegangen, nur er habe allein zurückbleiben müssen. Ein Gefühl, an das er sich bis heute erinnert.

Unsere Synagoge war kaputt, das Haus der von den Nazis ermordeten Großeltern verschwunden.

Michail Tkach

Als er mit seiner Mutter und der Großmutter schließlich nach Narodichi zurückkehrte, sei alles weg gewesen. „Unsere Synagoge war kaputt, das Haus der von den Nationalsozialisten ermordeten Großeltern väterlicherseits war ebenfalls verschwunden.“ Irgendwann sei die Familie nach Owrutsch gezogen, nicht weit vom alten Wohnort entfernt, wo sein Vater eine Anstellung als Bauingenieur fand. Auch Michail, der für seinen guten Abschluss in der Schule einst eine silberne Medaille erhielt, wurde später Ingenieur. Seine Mutter habe zeitweise im Schulamt gearbeitet.

Jüdische Traditionen, die habe man – so gut es eben ging – innerhalb der Familie begangen. Beruflich habe er viel Glück gehabt. Durch seine Kompetenz in der Metrologie, der Gerätetechnik, habe er in der Firma, für die er als Leitender Ingenieur in Kiew tätig war, zu Spezialisten und Firmen im Ausland Kontakt gehabt. Auch zu Deutschen. „Bereits 1970 sind wir das erste Mal in Ostdeutschland gewesen“, erinnert er sich. 1987 seien seine Mutter und seine Schwester nach Berlin gezogen, wo die Schwester als Zahnärztin arbeiten konnte. „Nur zwei Jahre nach ihrer Ankunft ist die Mauer gefallen.“

Neue Chancen durch Einwanderung

Tkach selbst war acht Jahre Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Stadt Potsdam e.V. Wie ist es für ihn gewesen, als Jude an die jüdischen Traditionen in Potsdam anzuknüpfen? „Es ist eine andere Welt“, sagt Michail Tkach. „Eine ganz andere Gemeinde, als vor dem Zweiten Weltkrieg.“ Damals haben überwiegend wohlhabende Juden die Stadt geprägt. Sie wurden deportiert, nur wenige überlebten den Holocaust. „Heute handelt es sich um eine junge jüdische Gemeinde, die sich überwiegend aus eingewanderten Menschen aus Osteuropa zusammensetzt“, das bringe andere Herausforderungen mit sich. Aber auch neue Chancen.

Alle freuten sich über den Bau der neuen Synagoge. Durch sie könne ein neues Selbstverständnis entstehen, sagt Tkach - sowohl für die rund 500 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Potsdam, wie auch für die nicht-jüdischen Potsdamer, die ein neues Wahrzeichen im Herzen des historischen Zentrums gewinnen.

Der Willi-Frohwein-Platz ist ein Erinnerungsort an den NS-Widerstand in Potsdam

© Ottmar Winter

Zum heutigen Holocaust-Gedenktag wird Tkach am Willi-Frohwein-Platz ganz in der Nähe seiner Wohnung einen Kranz niederlegen - gemeinsam mit Valentina Ivanidze, der Leiterin des jüdischen Jugendklubs „Lifroach“. Dass so viele junge Juden in der Stadt leben, ist besonders an diesem Tag tröstlich.

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