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Kultur: Ein Gefühl von Wahnsinn

„Gewalt im Spiel“: Theater Havarie thematisiert sexuelle Nötigung und Missbrauch

„Gewalt im Spiel“: Theater Havarie thematisiert sexuelle Nötigung und Missbrauch Von Antje Horn-Conrad Das Thema ist kein Tabu mehr. Vielerorts gibt es Beratungsstellen, Weiterbildung für Erzieher, Aufklärung für Eltern und Kinder. Dennoch bleiben viele Fälle von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung im Dunkeln, weil die Betroffenen nicht darüber reden können. Ist die Erstarrung erst gelöst, das Stummsein gebrochen, wächst die Chance, das Geschehene zu verarbeiten. Oft aber verhindern Pein und Scham, den ersten schwierigen Schritt zu gehen, sich jemandem anzuvertrauen und um Hilfe zu bitten. Das neue Stück des Theaters Havarie, das am Freitag im Waldschloss Premiere hatte, könnte mit seinen ganz eigenen, spielerischen Mitteln helfen, bedrohliche Erfahrungen aus dem eigenen Alltag wiederzuerkennen und über bislang verschwiegene Verletzungen zu reden. „Gewalt im Spiel“, inszeniert von Mitautorin Ingrid Ollrogge, beschreibt eben jene schockierenden Momente, in denen man sich selbst kaum bewusst wird, was gerade geschieht. Man spürt allein das Ungeheuerliche. Die Worte fehlen, die Sprache versagt. Im Spiel des Theaters Havarie aber bekommt das Unfassbare seinen hässlichen Namen. Schonungslos werden Szenen nachgestellt, in denen Menschen die Grenzen zur Gewalt überschreiten: demütigendes Zurechtweisen, Beleidigung, Erpressung und Quälerei bis hin zum sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung. Die Bühne wird zum Kaleidoskop, in dem sich permanent die Machtkonstellationen ändern. In wechselnden Rollen spielen Alexandra Bosshard, Sascha Diestelmann und Liz Hencke all die bedrückenden Situationen durch: eine Mutter, die ihre vom Vater missbrauchte Tochter tyrannisiert, Eltern und Lehrer, die erste, oft spielerische sexuelle Erfahrungen der Heranwachsenden unter Strafe stellen, Männer, die ihre Frauen schlagen und Chefs, die sexuelle Dienste von Untergebenen mit besseren Aufstiegschancen „belohnen“. Die häufigen Rollenwechsel gestatten, was im Alltag viel zu selten gelingt: die Positionen zu tauschen und sich in die Lage des jeweils anderen hinein zu versetzen. Dabei macht die schnelle Aufeinanderfolge der Szenen, die für einige Turbulenz und manchmal auch für Verwirrung sorgt, einen roten Faden sichtbar. Immer nutzen die vermeintlich Stärkeren ihre Macht gegenüber den Schwächeren aus und schüren obendrein deren Schuldgefühle. Eindringlich gesprochene Gedankenmonologe und Rechtfertigungsreden der Täter wie der Opfer lassen dies transparent werden und ermöglichen so eine Auseinandersetzung mit Vorurteilen und allzu gängigen Erklärungsmustern. Wie zu all seinen Stücken lädt das Theater Havarie im Anschluss an die Aufführung zum Gespräch ein und bietet vor allem Schulklassen an, sich in theaterpädagogischen Projekten eingehender mit dem Thema zu beschäftigen. Im begleitenden Programmheft finden sich neben Erfahrungsberichten und Sachinformationen auch Adressen von Beratungsstellen und Hinweise auf weiterführende Literatur wie das Buch „Zart war ich, bitter war''s“ (Hrsg. Enders). Darin berichtet ein Frau, wie sie über die Gespräche mit anderen Betroffenen ein Stück Normalität zurückgewann: „Langsam verstand ich: Nicht ich war wahnsinnig, sondern ich spürte nur den Wahnsinn, den der Täter mit mir gemacht hatte. Ich war ganz normal." Nächste Aufführungen: Dienstag 27. 1. bis Freitag, 30.1., 11 Uhr, Waldschloss, Stahnsdorfer Str. 100, Tel. 0331/719141, 5/6 Euro

Antje Horn-Conrad

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