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Kultur: „Er schaut aufs Land und alles tut so weh“

Bissige Narrenlieder und gesungene Gedichte von Hans-Eckardt Wenzel in der Friedrichskirche

Bissige Narrenlieder und gesungene Gedichte von Hans-Eckardt Wenzel in der Friedrichskirche „Sie werden kommen, der Tag ist nicht fern, aus den verwahrlosten Städten. Und reißen uns nachts, in London und Bern, aus den Schlaraffia-Betten", singt Hans-Eckardt Wenzel auf seiner neuen CD „Himmelfahrt“. Der Unruhegeist weiß: wir werden erwachen, doch wie immer zu spät. Am Mittwochabend gab der Liedermacher in der Babelsberger Friedrichskirche ein Benefizkonzert für die Potsdamer Flüchtlingshilfe. Ganz am Ende erst sang er den deutlichen Text über die Ankunft der Fliehenden im Reich der Reichen: „Sie schleppen die toten Säuglinge mit und all ihre Infektionen und öffnen mit einem gewaltigen Tritt die Türen der Fernsehstationen". In diesem Lied gibt es kein Entkommen, keinen Fluchtpunkt in der Poesie, die bis dahin den Kirchenraum füllte. Schlimmer noch. Die Musik schaukelt sich in Salsa-Rhythmen hoch: „Ole o he! Seemannsbraut ist die See.“ Steffen Mensching, Dichter und Clownskollege Wenzels aus jener Zeit, als beide noch Neuestes, Letztes und Allerletztes aus der „DaDaEr“ verkündeten, hat daran mitgeschrieben. Satire als Notwehr, um auszuhalten, was kaum zu ertragen ist. Wenzel ist hellwach, er konnte noch nie gut schlafen. Schon in seinen frühen Liedern, von denen an diesem Abend viele zu hören waren, sang er von der Angst, die ihn nachts befällt: „Was schon habe ich auf diesem Stern wirklich ändern können, was ich ändern wollte". Wenzel glaubt, und sagt es auch, dass er, weil er aus dem Osten kommt, an jener Krankheit leide, gegen Missstände immer etwas unternehmen zu müssen. Das sei bis heute so geblieben. Der Clown in ihm beginnt zu schluchzen. Unter Tränen erzählt er, wie er sich wegen der Probleme in Deutschland, der fallenden Aktienkurse, des schlechten Wetters und der notleidenden Abgeordneten, die sich ein Zubrot verdienen müssten, ein Lied ausgedacht hat. Ganz allein. Wimmernd kriecht er hinters Klavier. Das Publikum juchzt und hört voller Anteilnahme jenen Mitleid erregenden Gesang auf den Kanzler, der jetzt Härte zeigen müsse: „Er schaut aufs Land und alles tut so weh.“ Bissiger sind Wenzels Narrenlieder geworden. Selbstquälerisch vertieft er sich in die klebrigen Details einer Promenade durch das versyltete, ihm fremd gewordene Ostseebad Heringsdorf, um dann um so sehnsuchtsvoller auf die andere, dem Festland zugewandte Seite der Insel Usedom zu wechseln, dorthin, wo Straßen und Schienen enden, wo er die Sommer lang denken, schreiben, mit der Band proben kann. In einer nächtlichen Überfahrt fühlt er die Verlorenheit der Mitte: „Hier gab es alles ganz und gar dazwischen. Die Welt schien leer, die See ein tiefes Tal. Die Sterne drüber glichen Silberfischen. Und unter uns da lag das Weltall noch einmal." Ob in den Lied gewordenen Gedichten, den satirischen Balladen oder deftiger Shantys – Wenzels Worte treffen, die Reime sitzen und lösen in ihrer Sinnfülle tiefe Zufriedenheit über die Unversehrtheit einer im täglichen Informationsrausch schwer geschundenen Sprache aus. Solchen Verlusten begegnet Wenzel mit beißender Ironie: „Es ist die Zeit der Irren und Idioten“. Aber weil das so ist, ist es auch wieder die Zeit der Clowns, der Dichter und Poeten. Die Friedrichskirche jedenfalls war bis unters Dach gefüllt. Antje Horn-Conrad

Antje Horn-Conrad

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