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Kultur: Zeitgemäß und überzeitlich Beethovens Neunte

im Nikolaisaal

Im ausverkauften Nikolaisaal geriet die Darbietung von Beethovens neunter Sinfonie beim Silvesterkonzert der Brandenburger Symphoniker und des Berliner Oratorienchors unter der Leitung von Michael Helmrath zu einem Triumph der Musik. Brodelnd schälen sich die musikalischen Elemente aus der Ursuppe des ersten Satzes heraus. Tonfetzen, Akkordfragmente, Motive klingen auf und verwehen, ein Gewitter donnert vorüber, Blitze zucken. Holzbläser sprudeln und glitzern, Trompeten wettern furios, Streicher wogen auf. Ein vielstimmiger Streit widerstrebender Elemente. Auch der zweite Satz, zynisch verfremdet im „Clockwork Orange“-Film von Stanley Kubrick, bringt keine Erlösung, sondern nervöse Spannung, mechanischen Antrieb, dem selbst die kurzen Stockungen nichts anhaben können. Nur das wunderbare Trio mit anmutiger Oboe bringt eine kurze Aufhellung.

Wie in einem Traum, nicht von dieser Welt, klingt der dritte Satz, schlank biegsam und rein in den Streichern, delikat im Zusammenklang von Klarinetten und Hörnern, mit watteweichen Übergängen und Verwandlungen, ein elysisches Schweifen, Schwelgen und Schwellen. Das entscheidende Medium, die Melodie, wird weiter zurückgehalten, der Höhepunkt hinausgezögert. Dann, nach grellen Fanfaren und Trommelwirbeln, steigt endlich die vereinigende Melodie aus den Bässen auf, leise, aber klar vernehmlich. Es folgt das dramatische Finale, zudem plakative Dualismen gehören und ein beinahe karnevaleskes Tschingderassa mit Triangel, Becken und Pauke. Als Glücksfall erwies sich der Bassist Reinhard Hagen, ein international begehrter Solist, die Freudenhymne stimmte er überaus wohltönend an. Die anderen Solisten mit Laura Alonso, Sopran, Christina Pleß, Alt, und Ralf Willerhäuser, Tenor, hatten gegen Orchester und Chor einen ungünstigeren Stand. Der Berliner Oratorienchor, eine Institution unter den Laienchören, trug mit sechzig Sängern entscheidend bei zur jubelnden Feier der „Werte, die sie alle teilen sowie die Einheit in der Vielfalt“.

Beethovens Neunte passt bestens als freudiger und nachdenklicher Jahresausklang. Kein anderes Werk der klassischen Musik ist so eng mit der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung verbunden. Selbst geteilt durch Krieg und Kalten Krieg lagerte die Originalhandschrift in den beiden Berliner Staatsbibliotheken in Ost und West. Die Grenze verlief mitten durch die Doppelfuge des Schlusssatzes, jenen Höhepunkt, auf dem Beethoven die beiden musikalischen und ideellen Hauptthemen – Freude und weltumspannende Brüderlichkeit unter den Menschen – in kontrapunktischer Verflechtung gleichzeitig erklingen lässt. Für Leonard Bernstein gab es kein besseres Werk für die Feier der Wiedervereinigung. Kurz nach dem Fall der Berliner Mauer führte er die neunte Sinfonie, deren letzter Satz seit 1985 Europahymne ist, zweimal in Berlin auf. Zumindest an einem Ort auf der Welt waren wie selbstverständlich durch das Mitwirken vieler Menschen die idealistischen Konzepte dieser Musik verwirklicht worden. Denen fügte Bernstein etwas Neues hinzu: Wo es in Schillers Ode und damit auch im Finale der Sinfonie „Freude schöner Götterfunken“ heißt, ersetzte Bernstein die „Freude“ durch das Wort „Freiheit“.

Im Programmheft verteidigte er diesen Eingriff: Er sei sicher, dass Beethoven ihm seinen Segen gegeben hätte. Das hätte er sicher auch getan bei diesem Konzert. Die Brandenburger intonierten Beethovens Neunte mit zeitgemäßer Spannung und überzeitlicher Schönheit – ein gelungenes Zeichen für die Zukunft.

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