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Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan gibt es nur noch in einer Vitrine des Deutschen Museums in München.

© dpa / Frank Leonhardt

Tagesrückspiegel – Heute vor 62 Jahren: Süßes Schlafmittel, bitteres Erwachen

Hunderttausende Menschen nahmen Contergan – die Werbung versprach gefahrlose Hilfe, etwa gegen Übelkeit in der Schwangerschaft. Als ein Neurologe die schlimmen Folgen anprangerte, hörte erst niemand zu.

Eine Kolumne von Sascha Karberg

Mit dem Hinweis „ohne größere Nebenwirkungen“ pries die Pharmafirma Grünenthal Ende der 1950er Jahre ihr neues Schlaf- und Beruhigungsmedikament in Deutschland an. „Ruhe und Schlaf zu fördern vermag Contergan“, und zwar „gefahrlos“ und „ungiftig“. Das Mittel sei „so unschädlich wie Zuckerplätzchen“.

Selten lag eine Werbekampagne für ein Medikament falscher. Mindestens 5000 Kinder wurden allein in Deutschland mit schweren Fehlbildungen geboren, weil deren Mütter während der Schwangerschaft „Contergan“ oder „Softenon“ genommen hatten. Werbung und Ärzte hatten das Mittel mit dem Wirkstoff Thalidomid vor allem gegen die typische Übelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase empfohlen.

Atomwaffentests oder Thalidomid?

Als erstes Opfer der fruchtschädigenden Wirkung von Thalidomid gilt ein Kind, dessen Vater, ein Grünenthal-Mitarbeiter, seiner schwangeren Frau eine Probe des noch nicht für den Markt zugelassenen Medikaments mitgebracht hatte. Es wurde ohne Ohren geboren, während bei anderen die Arme oder Beine verkürzt waren oder fehlten. Bis Anfang der 1960er Jahre hatte die Zahl derart fehlgebildet geborenen Kinder zugenommen, doch war die statistische auffällige Häufung Zufall? Waren womöglich die damals heiß diskutierten oberirdischen Atomwaffentests die Ursache?

Einer der ersten Wissenschaftler, der auf Thalidomid als Ursache hinwies, war der Düsseldorfer Neurologe Ralf Voss. Er berichtete dem Contergan-Hersteller von seinem Verdacht, zwei Fälle schwerer Nervenschäden könnten auf die mehrmonatige Einnahme von Contergan zurückzuführen sein. Aber „Grünenthal hat sich nie für meine Fälle interessiert“, sagte er später dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“. Schließlich machte er seine Befürchtungen auf einem Neurologenkongress in Düsseldorf öffentlich, am 15. Februar 1961, vor 62 Jahren.

Kurz darauf weisen auch der Direktor der Kölner Universtitätsnervenklinik Werner Scheid Grünenthal und der Humangenetiker Widukind Lenz auf einem Fachkongress auf die möglichen Nebenwirkungen Contergans hin. Auch in Australien fielen dem Arzt William McBride die typischen Fehlbildungen im Zusammenhang mit Thalidomid auf und warnte nicht nur die Öffentlichkeit in einem Leserbrief im medizinischen Fachblatt „The Lancet“, sondern auch Grünenthal über deren australisches Partnerunternehmen. Dennoch dauerte es noch bis Ende November 1961, bis Grünenthal das Mittel endlich aus dem Handel nahm.

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