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Auf dem Bornstedter Friedhof erinnert ein Grabstein an das Baby, dessen Leiche am 23. Dezember 2011 in Potsdam gefunden wurde.

© Klaer

Ein Jahr danach: Spuren eines kurzen Lebens

Es war ein Mädchen und es hat nur wenige Stunden gelebt. Vor einem Jahr, einen Tag vor Heiligabend, wurde in Potsdam-West der Leichnam eines Säuglings gefunden. Was seitdem geschah.

E ine einzelne Rose liegt neben dem vergoldeten eiförmigen Stein auf dem wuchtigen Granitfindling. Vor den Gedenkstein auf dem Bornstedter Friedhof hat jemand eine weiße Engelsfigur gestellt, daneben liegt eine lachende Stoffpuppe, ein blutroter Weihnachtsstern, mehrere Gestecke. Hier ruht jemand, der offensichtlich nicht vergessen ist. An dessen Schicksal andere Anteil nehmen. Dabei hat das kleine Mädchen, das hier begraben ist, nicht einmal einen Namen. Es starb unter erbärmlichen Umständen nur Stunden nach seiner Geburt. Am Sonntag jährt sich der Fund des toten Babys in Potsdam-West zum ersten Mal. Die Identität der Eltern ist weiter ungeklärt.

Am Tag vor Heiligabend war die Landeshauptstadt von der grausigen Nachricht erschüttert worden: Der tote Säugling, eingewickelt in ein mit Blut verschmiertes Handtuch, lag an der Böschung zu einer Bahnstrecke an einem Garagenkomplex in der Kantstraße im Stadtteil Potsdam-West. Ein Anwohner entdeckte das Bündel am Morgen, als er seinen Wagen holen wollte.

Ein Jahr später erinnert am Fundort nichts mehr an das Drama. Die Graffitikünstler, die sich an den grauen Garagenmauern verwirklicht haben, sprühten in schwarz-weiß. Der Komplex liegt in einem toten Winkel des Wohnviertels. Hier kommt nur vorbei, wer sein Auto holen oder abstellen will.

Gut zwei Kilometer Luftlinie sind es von der Kantstraße bis zum Büro von Bernd Schulz in der Henning-von- Tresckow-Straße. Der erste Kriminalhauptkommissar und Chef der Potsdamer Mordkommission führt seit einem Jahr die Ermittlungen in dem Fall. Auch wenn er als Mordermittler einiges gewohnt ist in seinem Job, wie er selbst sagt – der Fund der Babyleiche in Potsdam-West hat auch ihn betroffen gemacht. „So etwas geht nicht spurlos an einem vorbei“, sagt der 57-Jährige: „Dass so etwas auch noch kurz vor Weihnachten geschah, belastet einen zusätzlich.“

So wie Bernd Schulz ging es vielen Potsdamern. Rund 150 Gäste kamen zur Beerdigung des kleinen Mädchens Mitte Februar auf dem Bornstedter Friedhof. Einen besonderen Gedenkgottesdienst zum Jahrestag wird es aber nicht geben. „Das brauchen wir nicht, das Gedenken funktioniert momentan auch so“, sagt Jutta Erb-Rogg, die Leiterin des Friedhofes. Das Grab des Mädchens, an dem im Sommer der Gedenkstein des Berliner Bildhauers Michael Spengler aufgestellt wurde, sei außerordentlich gut besucht. Immer wieder werden kleine Gaben, Blumenschmuck oder Kerzen aufgestellt. Immer wieder gibt es Gespräche über das Schicksal des Babys – aber auch über die mögliche Not der Mutter. „Das ist ein bleibender Prozess“, sagt die Friedhofsleiterin. Das Interesse ist für sie auch Zeichen dafür, „dass da eine offene Wunde ist“.

Gerade in Fällen, bei denen kleine Kinder, Säuglinge, umgebracht werden oder zu Tode kommen, ist auch der Ehrgeiz der Ermittler besonders groß, die Tat aufzuklären, sagt Kriminalhauptkommissar Bernd Schulz. Wohl schon mehr als 100 Beamte haben im abgelaufenen Jahr an dem Fall gearbeitet – immer abhängig von der aktuellen Hinweis- und Spurenlage.

Doch bislang gibt es keine heiße Spur, die Ermittler tappen sprichwörtlich im Dunkeln. Bei einem Zeugenaufruf in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ Anfang Juli gingen rund 30 Tipps ein. 10 000 Euro lobten Polizei und Staatsanwaltschaft als Belohnung für Hinweise aus, die zur Aufklärung des Falls führen. Doch das alles brachte vorläufig nichts. „Wir arbeiten in akribischer Detailarbeit und gehen allem nach“, sagt Schulz. „Jeder Hinweis muss ausgewertet werden. Doch keiner hat bisher den durchschlagenden Erfolg gebracht.“

Die Ermittler setzen auch auf den freiwilligen Speicheltest bei Frauen, die zur Tatzeit hochschwanger gewesen sein könnten. Bislang gab es keine Übereinstimmung mit den Spuren vom Fundort des Kindes. „Es ist aber nicht zwingend davon auszugehen, dass die Mutter die Tat begangen hat“, sagt Schulz. Die Mutter könne aber auch zum Täter führen. Spekulieren über mögliche Hintergründe der Tat will Schulz jedoch nicht. Vorstellbar sei aber vieles, sagt er.

Fest steht bislang nur wenig: Als der Anwohner das Baby am 23. Dezember 2011 auffand, war es bereits tot. Die Rechtsmediziner fanden bei der Obduktion heraus, dass es in der Nacht zuvor lebend geboren wurde und danach durch Gewaltanwendung zu Tode kam. Die Ermittler haben die DNA-Spuren sowie ein Handtuch mit Blutspuren, in das die Leiche gewickelt war – und sie konnten die DNA der Mutter finden. Falls es irgendwann eine Tatverdächtige gibt, kann die Mutter so per DNA-Test eindeutig identifiziert werden. Außerdem haben Zeugen in der Nacht vor dem Babyfund einen dunklen Pkw mit PM-Kennzeichen in der Nähe des Garagenkomplexes gesehen.

Allein dieser Anhaltspunkt führte zu umfangreichen Prüfungen von Tausenden Fahrzeugen – ohne Ergebnis. Die anfängliche weitere Vermutung der Polizei, das Baby könnte aus einem vorbeifahrenden Zug geworfen worden sein, bestätigte sich im Laufe der Ermittlungen ebenfalls nicht.

Gibt es überhaupt noch Hoffnung? Unter Ermittlern gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Je länger es dauert, den Täter zu finden, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ein Fall aufgeklärt wird. „Aber so alt ist dieser Fall nicht“, sagt Chefermittler Schulz. Resignieren oder gar den Fall zu den Akten legen kommt für ihn nicht infrage. „Das wollen und werden wir aufklären.“ Es klingt fast, als wolle er etwas gutmachen. Wenigstens die Schuldigen finden.

Auch auf dem Bornstedter Friedhof spielt die Schuldfrage oft eine Rolle – und die Frage nach dem Wert eines Menschenlebens, erzählt Jutta Erb-Rogg. „Die meisten Besucher verstehen sehr gut das schwierige Verhältnis von Tätersein und Opfersein“, sagt sie: „Das Leben ist nicht schwarz-weiß.“

Manchmal sind es aber auch einfache Gesten, in denen sich Anteilnahme ausdrückt. Wie am Freitag vor Totensonntag. Da kam eine Gruppe Friedhofsgärtner zum Bornstedter Friedhof. „Wir decken jetzt die Grabstelle für den Winter zu“, erklärten sie der überraschten Friedhofsleiterin. Eine kleine Selbstverständlichkeit, wie sie das Mädchen zu Lebzeiten nie erfahren hat.

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